Kathedrale von Chartres: Nordrosette um 1230. Foto: Michael Eichmann
Die Langsamkeit
Wohltuend und manchmal unverzichtbar
Parkplätze an vielbefahrenen Strassen gelten keineswegs als liebliche Orte. Aber in Frankreich trifft man von Zeit zu Zeit auf Schilder mit Baum, Tisch und Stuhl, die auf Rastmöglichkeiten in einem Waldstück hinweisen. Diese Chance muss man packen, wenn noch viele Fahrkilometer zwischen Chartres und Beaune vor einem liegen.
Von Béatrice Eichmann-Leutenegger
Schnell das Auto parkiert und den freien Tisch angesteuert. Man hört die Vögel zwitschern, und das Brummen der schweren Lastwagen ist nur noch ein Hintergrundgeräusch. In der Nähe hat eine Familie bereits ein farbiges Tuch über den Tisch ausgebreitet, Flaschen und Teller hingestellt und mit einem fröhlichen Essen begonnen.
Im Hintergrund aber geht ein Benediktiner mit dem Brevier in der Hand zwischen den Baumreihen hin und her. Es ist Mittag, Zeit für die Sext. Der ruhige Gang des betenden Mönchs lässt an eine andere Welt denken. Wir schauen ihm nach, bis er das Buch schliesst, zu seinem Wagen zurückkehrt und wegfährt.
Abends im Restaurant bin ich unentschlossen, welche Speise ich bestellen will. Schon steht der Kellner wartend vor unserem Tisch und fragt nach den Wünschen. Ich gestehe ihm meine Verlegenheit angesichts der fantasievollen Möglichkeiten auf der Menükarte. Ohne Zögern sagt er, ich solle ruhig noch darüber nachdenken, er werde später wieder erscheinen. Dabei ist das Restaurant bereits gut besetzt. Er aber hat eine Lektion in wohltuender Langsamkeit erteilt.
Das Tourismusbüro in Chartres weist auf die «Illuminations» hin, auf dieses Lichtspektakel, das bedeutende Gebäude in wechselndem Farbspiel beleuchtet. Der Zeitpunkt für den Beginn ist nicht genau festgelegt – es gilt der Einbruch der Dämmerung.
Wann haben wir in letzter Zeit so lange auf einer Bank verweilt?
Wir setzen uns nach halb neun Uhr auf eine Bank vor der Kathedrale. Ein junger Mann rückt bereitwillig zur Seite, und bald geraten wir ins Gespräch mit ihm. Es stellt sich heraus, dass er in einem Chemiewerk arbeitet und mütterlicherseits algerischen Ursprungs ist. Seine Mutter habe ihn noch die Sprache der Berber gelehrt.
Diese Aussage elektrisiert mich, und ich bitte ihn, einige Sätze in der Sprache, die ich noch nie gehört habe, zu sprechen. Er beginnt ohne weiteres. Die Worte klingen ähnlich kehlig wie ein schweizerdeutscher Dialekt. «Chuchichäschtli», sagen wir zur Verdeutlichung des akkustischen Eindrucks, und er schmunzelt.
Unser Gespräch fliesst dahin, während sich mittlerweile mehr und mehr Menschen für die «Illuminations» einfinden. Kaum haben wir gemerkt, dass wir schon seit einer Stunde dasitzen und mit dem jungen Mann plaudern.
Wann haben wir in letzter Zeit so lange auf einer Bank verweilt? Erst als blaue Farbbänder auf der Fassade der Kathedrale hochsteigen, stellen wir fest: Das Spektakel hat begonnen.
Man weiss es ja, dass sich der Bau der französischen Kathedralen über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte hinweg erstreckt hat, dass auch heutzutage beständig Restaurationen anfallen und deswegen immer ein Turm oder ein Querschiff eingerüstet sind. Eine Kathedrale ist eine steinerne Metapher: nicht nur für das Streben himmelwärts, sondern auch für den beharrlichen Gang durch die Zeiten.
Nichts lässt sich überstürzen, alles will sorgfältig bedacht sein. Was einst in den Domhütten des Mittelalters begonnen hat, erfährt seine umsichtige Fortsetzung in unserer Zeit. Es ist die Kapitulation der Beschleunigung.
Am schwierigsten sei das Ultramarin-Blau heute zu gewinnen – die himmlische Farbe schlechthin.
Die Heiligtümer von Chartres und Reims zeichnen sich durch die Kunst ihrer Glasmalereien aus. Im «Centre international du Vitrail» von Chartres erlernen die Studenten den höchst subtilen Umgang mit Farben, wenn es gilt, die Glasscheiben zu restaurieren oder zu ersetzen. Nicht nur das Einzelteil spielt eine Rolle, entscheidend ist das Zusammenspiel.
Am schwierigsten sei das Ultramarin-Blau heute zu gewinnen – die himmlische Farbe schlechthin, die in der Westrosette von Notre-Dame in Chartres aufleuchtet, ein Abglanz des ewigen Lichts und der göttlichen Schönheit, wie dies die Denker der mittelalterlichen Philosophenschulen von Chartres, Reims oder Saint Denis bei Paris gedeutet haben.