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Abendseufzer

23.01.2019

Zuhören und Wahrnehmen statt zu bewerten und zu rechnen. Ingrid Zürcher über das Reflektieren

Abendseufzer
Einen Ameisen-Schritt
tat ich heute auf dem Pfad meiner Seele,
eine Fichtennadel schleppte ich hinter mir her,
eine Blattlaus war meine Beute.
Aber mein Tag war von Arbeit und
Dank erfüllt.
Jarno Pennanen

 

Diesen Abendseufzer entnehme ich dem Schlusskapitel von «Leben mit leichtem Gepäck – eine minimalistische Spiritualität» von Uwe Habenicht. Da werde ich aufgefordert: «Setze dir selbst ein Mass.» Am Anfang «steht das Ausbilden und Wählen einer Form. Ich bestimme, wie lange, wie und wann ich meditiere, wie viel und wann ich etwas kaufe, verbrauche und nutze. Ich setze fest, welches Verhältnis ich zu den Alltagsdingen einnehme.» Dabei kann ich als Leitfrage mitnehmen «Wie viel weniger ist mehr?» oder «Wie viel ist notwendig, um das Essenzielle nicht aus dem Blick zu verlieren?». Probier aus; versuch zu «realisieren, was es noch nicht gibt». Ein Anklang an das neutestamentliche «Es ist noch nicht offenbar, was wir sein werden …»

Es geht dem Autor darum, auf die derzeitigen globalen Krisen und grossen Herausforderungen kreativ zu reagieren. Und das geht nicht anders als selber, jede und jeder selber. Im tiefen und oft verborgenen Wunsch, der eigenen, im Grund angelegten Sehnsucht näher zu kommen. Mich spricht an, dass der Autor Spiritualität als Transformationsübung sieht, ja als angeeignete und eingeübte Religion. Dass Glauben mehr als eine Überzeugung sein kann. Was braucht es, dass das geschieht: Dass Glauben lebendig macht und die heilsamen Energien des Göttlichen wirksam werden können? Das geht nicht ohne (angemessene) Übung, nicht ohne Geduld und beharrliches Dranbleiben. Wie auch bei vielen körperlichen Genesungswegen kontinuierliches Üben und Probieren das Wesentliche ausmacht, um wirklich gangbare Wege in der neuen Situation zu pfaden; und am besten nicht nur allein, sondern mit andern.

Der Abendseufzer lädt mich ein, der Ameisen-Empfindung des seufzenden Wesens zuzuhören und einfach wahrzunehmen, wo ich gleich geneigt bin, zu bewerten, zu «rechnen». Was ist doch gewonnen, wenn der Tag «von Arbeit und Dank erfüllt war»!

Ingrid Zürcher, ref. Seelsorgerin

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