«Wonach sehne ich mich eigentlich?» - Für Andrea Schwarz eine zentrale Frage an Weihnachten. Foto: Ulrike Diekmann

«Advent ist ein Trainingslager»

02.12.2020

Die Autorin Andrea Schwarz über Advent und Weihnachten

«Wir haben Weihnachten gezähmt», sagt die bekannte Autorin Andrea Schwarz. Sie erklärt, warum das Fest vier Wochen Vorbereitung braucht und ein ganzes Jahr gefeiert werden soll.

Autor: Detlef Kissner*

Was ist Ihnen wichtig im Blick auf die Advents- und Weihnachtszeit?

Andrea Schwarz: Früher standen unsere Weihnachtsbäume bis zum 2. Februar (Mariä Lichtmess). Da dauerte die Weihnachtszeit 40 Tage. Wir feiern immer noch 40 Tage Weihnachten, nur wir fangen jetzt schon Ende November damit an und hören an Weihnachten damit auf. Schlagartig am 26. Dezember ist Weihnachten vorbei. Und dann konzentriert sich alles auf Neujahr, gefolgt von Fasnacht, den Skiferien… Damit nehmen wir dem Advent die Chance, Advent zu sein. Advent ist schon Weihnachten. Wir vergessen dabei aber die gute, alte Regel, dass man Feste nachfeiern kann, aber nicht vorfeiern sollte.

Wie sollten wir den Advent denn begehen?

Advent ist die Vorbereitung auf Weihnachten, nicht schon Weihnachten selbst. Er ist gedacht als eine eher ruhige Zeit, in der ich ins Lauschen kommen kann. Es ist eine Zeit der Besinnung, der Busse, der Einkehr, was in der katholischen Liturgie durch die Farbe violett zum Ausdruck gebracht wird. Aber ab Ende November geraten wir regelrecht in einen Vorbereitungsstress, sind umtriebig, beklagen uns über zu viel Termine. Vielleicht haben wir dieses Jahr die Chance, Advent ganz anders zu erleben.

Sie meinen wegen der Corona-Massnahmen?

Ja. Ein südafrikanischer Priester hat in seiner Predigt einmal darauf hingewiesen, dass es vier Ebenen von Weihnachten gebe. Die erste sei die Konsum- und Kommerzebene. Auf der sind wir ganz gut unterwegs. Dann gebe es eine Charles-Dickens-Ebene. Das ist das traute Familienidyll mit weisser Weihnacht usw. Auf der dritten Ebene würden wir versuchen durch Nacherzählung, z. B. in Krippenspielen, das Ereignis von damals in die Gegenwart zu holen.

Wichtig aber ist die spirituelle Ebene: Was ist das eigentlich, was wir da an Weihnachten feiern? Wir sollten versuchen, von der spirituellen Ebene her wieder die anderen Ebenen zu durchdringen. Man kann z. B. versuchen, durch den Weihnachtsmann hindurch zum heiligen Nikolaus zu kommen und damit wieder zum spirituellen Kern vorzudringen. Vielleicht haben wir dieses Jahr wirklich eine Chance mit den veränderten Gegebenheiten noch einmal etwas Anderes zu entdecken.

Wie könnte das ganz praktisch gelingen?

Sich beispielsweise mal eine halbe Stunde in eine Kirche zu setzen, statt zu überlegen, ob man allen einen Weihnachtsbrief geschrieben hat, denen man schreiben muss. Erwarten wir noch etwas oder haben wir nur Erwartungen? Vielleicht einmal etwas Ungewöhnliches zu machen. Zu schauen: Was kann ich eigentlich herschenken? Möglicherweise ist ein langes Telefongespräch mit jemandem, der aufgrund von Corona nicht aus dem Haus gehen kann, wichtiger als eine Schachtel Pralinen. Und eine wichtige Frage: Wonach sehne ich mich eigentlich?

Wie meinen Sie das?

Advent ist die Zeit, in der die Sehnsucht wachsen soll, die Sehnsucht nach dem Licht, das in Gott zu den Menschen kommt. Die Sehnsucht danach: Was ist eigentlich Ziel und Bestimmung meines Lebens? Wo will ich eigentlich hin? Dazu gehört auch die Frage: Wo bin ich auf meinem Weg vom Leben und von der Lebendigkeit abgekommen? Wo muss ich mich neu orientieren? Wonach halte ich Ausschau? «Es kommt ein Schiff geladen» – Stehe ich noch am Strand und schaue nach dem Schiff? Oder denke ich, es ist schon längst da. Wir lassen die Lichter am Weihnachtsbaum schon ab dem ersten Advent brennen. Advent heisst aber aus der Dunkelheit heraus, sich dem Kommen des Lichtes anzunähern und das dann an Weihnachten zu feiern.

Sie schreiben: «Weihnachten will 365 Tage im Jahr gelebt sein.» Wie kann das gelingen?

Advent ist ein Trainingslager, um adventlich leben zu lernen. Das heisst für mich, auf die Stimme Gottes zu hören: Was will er von mir? Was will er für mich? Wo soll es in meinem Leben hingehen? Offen zu sein für den ganz anderen Gott, für den Gott der Überraschungen. Keine Erwartungen zu haben, sondern erwartend zu sein. In dem Moment, in dem ich Erwartungen habe, schreibe ich Dinge nur fort. «Das haben wir noch nie so gemacht», ist ein un-adventlicher Satz.

Deshalb Ihr Buchtitel «Wilde Weihnachten»?

Ja. Was ist das Neue, Frische daran, das Wilde, das Nicht-Gezähmte? Wir haben Weihnachten gezähmt. Wir haben es an unsere Bedürfnisse angepasst. Damit machen wir es klein, statt die eigentliche Grösse dieses Festes anzuerkennen. Wenn wir die Grösse dieses Festes sehen, lohnt es, sich vier Wochen darauf vorzubereiten und es ein ganzes Jahr lang zu leben.

Wie können wir dieses Jahr Weihnachten feiern angesichts der Einschränkungen?

Wir sind dieses Jahr besonders in unserer Kreativität gefordert, um Menschen die frohe Botschaft von Weihnachten weitersagen zu können. Vielleicht braucht es Angebote, die nicht nur auf den Kirchenraum begrenzt sind. Warum nicht Weihnachten in einer grossen Scheune feiern? Warum nicht mit einem Weihnachtstruck am ersten Feiertag die verschiedenen Gemeinden abfahren und auf grossen Plätzen eine kurze Andacht halten?

Wir sollten auch die Zeit zwischen den Jahren bewusst nutzen. Da läuft sonst drei oder vier Tage gar nichts. Dieses Jahr müsste an jedem Tag in der Weihnachtsoktav ein alternativer Gottesdienst angeboten werden, getragen von engagierten Laien, Jugendlichen usw. Die Zeit zwischen den Jahren würde sich wunderbar dafür eignen, ein Weihnachten XXL zu feiern.

*Detlef Kissner ist Redaktor des Pfarreiblatts «forumKirche» der Kantone Thurgau und Schaffhausen, wo das Interview zuerst erschien.

Andrea Schwarz thematisiert Weihnachten in den Büchern «Gib dem Engel eine Chance» (Herder) und «Wilde Weihnachten» (Patmos).