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Aller Anfang

09.01.2025

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge


Das Jahr hat erst angefangen.

Die Agenda ist noch blank und eselsohrenfrei wie sonst nie. Ich mag Anfänge. Entgegen dem Sprichwort ist ein Anfang doch meist viel unbeschwerter und einfacher als ein Aufhören und Beenden. Der bezaubernde Beginn einer Liebesgeschichte, wo Verheissung noch grösser ist als Pragmatismus, eine Ahnung des Glücks vielleicht. Eine erste Idee für einen «pfarrblatt»­Artikel: viel einfacher, als ihn im Korsett der Sprache stringent zu vollenden. Die ersten Spuren auf einem Schneefeld, der erste Schluck Wein aus dem frischen Glas, die ersten Zeilen eines Briefes auf weissem Papier, noch ohne Korrekturen und gedankliche Sackgassen.

Das Aufhören und Beenden: Wie viel schwerer und beengender mir das scheint. Die Jahressrückblicke, dieser Hang zum Bilanzieren und Einordnen, der hohe Anspruch, an dem Mass genommen wird. Hat man sich bewährt? Ach.

Ob es mir beim Lebensende dereinst auch so gehen wird?

Oder wird dieser bereits im Zeichen des Neuanfangs stehen? Während ich schreibe, ziehen an meinem inneren Ohr Fetzen des bekannten Kanons vorbei. «Ausgang und Eingang / Anfang und Ende / liegen bei Dir, Herr, / füll’ Du uns die Hände.» Dass Vollendung meine Sache nicht sein muss und sein kann, scheint mir nun geradezu tröstlich.

Im Anfang war das Wort. Aber wer gab wem den ersten Kuss? Worüber wurde zum ersten Mal gelacht? Wovon handelt der erste Traum? In seinem Buch «Aller Anfang» spürt Meir Shalev Anfängen und «ersten Malen» in der Bibel nach – unterhaltsam, überraschend und scharfsinnig.

Kaspar Junker, Seelsorger im Inselspital

Kolumnen aus der Inselspitalseelsorge im Überblick

Buchtipp:

Meir Shalev: Aller Anfang. Die erste Liebe, das erste Lachen, der erste Traum und andere erste Male in der Bibel. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Diogenes Verlag, Zürich, 2010.