Das neue Kreuz regt zu Diskussionen über Leid und Freude im Christentum an. Foto: Pia Neuenschwander
«Als wollten sie uns umarmen»
Ein neues Kreuz in St. Mauritius inspiriert zu Diskussionen.
Seit Aschermittwoch hängt in der Kirche St. Mauritius in Bern Bethlehem ein neues Kreuz, gestaltet vom Künstler Eduard Hertig. Was war ihm dabei wichtig und wie kommt das Kreuz bei den Gläubigen an? Das «pfarrblatt» hat sich umgehört.
Text: Sylvia Stam, Fotos: Pia Neuenschwander
«Es fordert immer wieder heraus, neu darüber nachzudenken. Es ist ja auch nicht zu übersehen», sagt Frau S. über das grosse bronzene Kreuz, das seit Aschermittwoch in der Kirche St. Mauritius in Bern-Bethlehem hängt. Die Seniorin ist eine von rund 30 Gottesdienstbesucher:innen an diesem Sonntagmorgen im Mai. Es ist tatsächlich unübersehbar: Vor einem beigen Tuch hängt das 114 cm breite und 127 m hohe Kreuz hoch über dem Altar, direkt oberhalb des Tabernakels
Das Kreuz hat keinen eigentlichen Korpus, sondern der gekreuzigte Jesus bildet mit Armen und Füssen das Kreuz selbst. Auffallend sind die grossen, offenen Hände. Auf dem Kopf ist eine Krone angedeutet.
Fastenzeit, Osterzeit und im Advent
«Als die Kirche St. Mauritius gebaut wurde, wollte der Architekt gar kein Kreuz darin aufhängen, wie mir berichtet wurde», sagt Ruedi Heim, Pfarrer in St. Mauritius und St. Antonius. Bislang habe es lediglich ein feines Metallkreuz gegeben, darüber einen Wandteppich mit einem Labyrinth drauf. «Wir haben ein Kreuz gesucht, um den Teppich während der geprägten Zeiten, also in der Fasten- und Osterzeit sowie im Advent zu überdecken.» Die Wahl sei auf Eduard Hertig gefallen, weil der Kirchgemeindepräsident Werner Bauer von dessen Engelausstellung begeistert war.
«Ich musste mich einen Moment daran gewöhnen», sagt Erika von Arx, eine weitere Gottesdienstbesucherin beim Apero nach dem Gottesdienst, «aber es gefällt mir sehr gut», ergänzt die Seniorin. Speziell findet sie die grossen Hände: «Als wollten sie uns umarmen.» Die beiden Herren am Tisch stimmen ihr zu: «Die Hände wollen uns willkommen heissen», interpretiert der jüngere von ihnen.
Leiden und Freude
Tatsächlich ist das die Idee des Künstlers Eduard Hertig aus Frauenkappelen. «Christus heisst hier alle willkommen und ist bereit, dich in die Arme zu schliessen», sagt er auf Anfrage des «pfarrblatt». «Christus und das Kreuz sind hier eins und nicht zu trennen.» Das Kreuz sei ein uraltes Symbol für die Entscheidung. Durch die Verschmelzung von Korpus und Kreuz, «werden wir aufgerufen, uns zu entscheiden und nach seinem Gesetz zu handeln», so der reformierte Künstler. Dieses Gesetz konzentriert sich für ihn im Gebot der Nächstenliebe. Auch die «dezente Königskrone» versinnbildlicht, «wie schön es wäre, wenn unsere Welt nach seinem Gesetz regiert würde.»
Das Zusammenfallen von Kreuz und Korpus regt Frau S. zum Nachdenken über das Leiden an: «Es ist kein Kreuz, an das Jesus genagelt ist. Der Korpus ist ohne Kreuz. Das Leiden ist zwar drin, aber die Geste ist offen, die Botschaft einladend.» Auch Lydia Kunz am Tisch nebenan spricht diese Spannung an. «Die Krone, die ja eine Dornenkrone war, weist auf das Leiden hin. Die offenen Hände strahlen jedoch Freude aus.» Ihre Nachbarin Frau B. pflichtet ihr bei: «Als wüsste er, dass das Leiden am Kreuz bald vorbei ist.»
Christentum der Tat
Die offenen Hände transportieren für Hertig noch eine weitere Botschaft: «Es ist mein Hinweis auf ein Christentum der Tat: Redet weniger und tut mehr!» Diese Deutung nennt keine:r der Besucher:innen an diesem Sonntagmorgen. Als sie von dieser Idee des Künstlers hören, entwickelt sich eine intensive, kontroverse Diskussion darüber.
Thorsten Krottmann, ein Mann mittleren Alters, spricht die «Reduktion auf das Nötigste» an. «Es ist rudimentär, aber das hat was», sagt er anerkennend. Auf die Frage, was denn das «Nötigste» sei, entgegnet er: «Die offenen Hände, sie empfangen einen, man ist willkommen.» Die Begeisterung der Damen teilt er offensichtlich nicht, das Pastoralkreuz von Papst Johannes Paul II. habe ihn geprägt, sagt er zur Erklärung. «Für eine Kirche ist es passend, aber in meiner Wohnung würde ich dieses Kreuz nicht aufhängen», sagt er lachend.