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Am Ende eines langen Tages

04.11.2021

Gedanken aus der Inselspitalseelsorge

Herunterfahren, endlich, der letzte Bericht ist geschrieben. Was für ein Tag! Viele Besuche – hätte ich mich nur aufteilen können! Eines der Behandlungsteams war zerstritten, schwierig, zum Glück kommt so etwas nur selten vor. Zwei Sitzungen. Kaum Zeit zum Essen. «Wollen Sie wirklich herunterfahren?» Ein Programm ist noch geöffnet. Ich schliesse es. Ja. Ich will wirklich- Da, das Telefon läutet. Herr M. möchte gerne Seelsorge. Auf morgen verschieben geht nicht.

Ich klopfe, trete ein, grüsse und stelle mich kurz vor. Herr M. schaut mich fragend an. 

Und jetzt? 

Der Patientenwunsch «Seelsorge» durchläuft oft eine Kommunikationskette von mehreren vielbeschäftigten Menschen. Da kann es schon einmal zu einem Missverständnis kommen. Hatte Herr M. nach einem Priester gefragt? Hatte er gestern schon gefragt und ist jetzt überrascht, dass ich doch noch zu ihm komme? Kann er sich aus irgend einem Grund nicht mehr an seinen Wunsch erinnern oder ist er falsch verstanden worden? 

Ich setze mich und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Beginn eines Besuchs unklar ist. Oft gelingt es mir, mit einer Prise Humor die Situation zu entspannen. Diesmal nicht. 

Daher schweige ich einfach. 

Herr M. schweigt auch. 

Es ist kein unangenehmes Schweigen.

Langsam vergeht meine Anspannung. 

Herr M. richtet sich in seinem Bett etwas auf. 

Dann schaut er auf den dünnen Schlauch, der unter dem Verband an seinem Handgelenk verschwindet. 

Schliesslich legt er seinen Kopf zurück aufs Kissen.

«Ich kenne beides. Reformiert und katholisch.» 

Ich schweige weiter. Seine Äusserung verlangt nicht nach einer Stellungnahme. 

Dann berichtet er von seinem Leben und teilt mit mir seine Erinnerungen an Schönes und Erfreuliches, an Schicksalsschläge und Trauriges. Ich nicke ab und zu, frage auch mal nach. Zweimal ist er verheiratet gewesen. Beide Frauen starben –  an der gleichen Krankheit. Seither lebt Herr M. alleine, seit ein paar Monaten mit Unterstützung: eine Haushaltshilfe, Nachbarn, seine Familie. Er möchte wieder nach Hause. Ob es möglich werden wird, ist noch offen. 

Keine Verbitterung, kein Hadern. Etwas Trauer ab und zu, vor allem aber Freude und Zufriedenheit. 

Wir verabschieden uns.

Was war, darf sein, wie es war, denke ich, und was kommt, kommt.

Nadja Zereik, Seelsorgerin Inselspital

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