Simone Weil. Foto: wikipedia
Aufmerksam für die Gegenwart
Zum 80. Todestag von Simone Weil
Die französische Philosophin Simone Weil findet einen neuen Zugang zur Demut. Demut bedeutet für sie, die condition humaine anzuerkennen. Dies umfasst, die Realität hier und jetzt mit ihren Begrenzungen anzunehmen.
von Angela Büchel-Sladkovic
Die junge Philosophin Simone Weil (1909–1943) ist blitzgescheit, selbstbewusst, sie hat «ein Herz, das fähig ist, für das ganze Universum zu schlagen» (Simone de Beauvoir), und sie ist furchtlos. Als Tochter aus gutem Haus und Absolventin der staatlichen Elite-Schule ENS (École normale supérieure) in Paris steht ihr eine aussichtsreiche Zukunft offen.
Demut ist nicht ihr Stichwort, der Demütigung und Erniedrigung sagt sie den Kampf an. Mit Zwanzig tritt sie der Liga für Menschenrechte bei, sie engagiert sich in der Arbeiterbildung und knüpft Kontakte zur Gewerkschaftsbewegung. Empowerment ist ihr ein Herzensanliegen. Ihre erste Stelle als Lehrerin an einer Mädchenmittelschule verliert sie, da sie Arbeitslose – Opfer der Weltwirtschaftskrise 1929–1932 – auf ihrem Protestmarsch ins Rathaus begleitet.
Erniedrigung führt zu Fügsamkeit
Nach drei Jahren des Unterrichtens geht Simone Weil, die sich immer stärker mit der Arbeiterfrage auseinandersetzt, für einige Monate in die Fabrik. Wie prägend, ja einschneidend der kurze Klassenwechsel ist, klingt in späteren Briefen an: «Das Unglück ist mir in den Leib gefahren.» Als Frau wird sie in eine rein maschinelle Arbeit verbannt und damit einem elenden System von Geschwindigkeit und Befehlen ausgesetzt. Erniedrigung (humiliation), so stellt sie überrascht an sich selber fest, führt nicht zu Widerstand oder Auflehnung, sondern im Gegenteil zu Fügsamkeit und Unterwürfigkeit.
Jegliche Fähigkeit zu handeln, Selbstachtung und Selbstwert zerbröseln unter der Gewalt der Unterdrückung. Simone Weil sucht nach Möglichkeiten, an der Maschine zu bestehen, ohne abzustumpfen oder die Arbeit zu verderben und somit zu hungern. Otto Betz hat darauf hingewiesen, dass im Fabriktagebuch das erste Mal der für sie so wichtige Begriff der Aufmerksamkeit fällt. Sie benötige eine neue Technik: nicht so sehr angestrengte Konzentration auf einen Punkt, sondern vielmehr offene, schwebende Aufmerksamkeit und Lockerheit.
Von Christus ergriffen
Gefangen und zerrieben im Räderwerk moderner industrieller Produktion macht die Philosophin eine weitere unerwartete Erfahrung. In ihrem stummen Schrei fühlt sie sich Christus zugehörig. Mit Verwunderung stellt sie fest, dass ihr etwas widerfährt, das ihr unmöglich erschien und ihr Lebensverständnis und ihre Selbsteinschätzung verändert. Kurz vor ihrem Tod wird sie sich dem Dominikanerpater Joseph-Marie Perrin (1905–2002) gegenüber als «von Christus ergriffen» offenbaren.
Die mystische Erfahrung des fernnahen Gottes hebt das Leiden nicht auf und macht es nicht erträglicher. Simone Weil betont, das Christentum sei «kein übernatürliches Heilmittel» gegen das Leiden, sondern vielmehr ein «übernatürlicher Gebrauch» (usage surnaturel) des Leidens.
Spirituelle Fehlformen
Simone Weil ist jeder Form der spirituellen Hingabe und Praxis gegenüber äusserst kritisch. Ein Leben aus der innigen Nähe Gottes und eine fraglose Gläubigkeit sind ihr suspekt. Gross sei die Gefahr, Gott in Dienst zu nehmen, um eigene Wünsche oder Bedürfnisse zu leben. Oft verstecke sich hinter dem Etikett «Gott» oder «Liebe» ein ungeklärtes Bedürfnis nach Nähe, Trost, Anerkennung, Sinn …, hinter der Demut eine grosse Selbstbezogenheit. Gegen den handlichen Gott betont Simone Weil den fernen, uns entzogenen Gott und spricht von der heilsamen Verunsicherung des Atheismus.
Man muss sich von «Gott» befreien, um Gott zu erfahren. Denn: «Es ist nicht Sache des Menschen, auf Gott zuzugehen, sondern Sache Gottes auf ihn zuzugehen. Der Mensch muss nur zusehen und warten.» Simone Weils Kritik an der Vorstellung, etwas für Gott zu tun, gewinnt im Kontext der publik gewordenen Vorfälle von Selbst- und Fremdausbeutung im Namen Gottes an Aktualität. Wenn man nicht (bloss) Gehorsam, sondern bedingungslose Hingabe und Aufopferung für etwas Grosses einfordert, so analysiert Simone Weil, kann man zusätzliche Energie mobilisieren. Doch wer sich genötigt sieht, «um Gottes willen» über seine Kräfte hinaus zu arbeiten, verliert jeglichen Kontakt zu sich selbst.
Das bin nicht mehr ich, schreibt Doris Wagner, die es geschafft hat, sich Hilfe zu holen. Simone Weil spricht von Versklavung und dem Zerriebenwerden der Seele. Menschlich sein Demut gehört nicht zu den zentralen Begriffen in Weils Schriften wie etwa malheur, attention, désir oder dé-création. Und doch geht es ihr zentral um Demut als eine Haltung des Menschseins. Es gibt eine lange Tradition, Demut als Unterwürfigkeit zu lesen oder in einem Herr-Knecht-Verhältnis als Dienst. Gerade die kirchliche Sprache ist bis heute davon geprägt.
Simone Weil interpretiert Demut als eine menschliche Grundhaltung: es geht darum, seine Begrenztheit wahrzunehmen und anzunehmen. Das klingt einfach, ist aber, um mit Simone Weil zu sprechen, «übernatürlich», ein Geschenk der Gnade. «Demut ist die Erkenntnis, dass man nichts ist, insofern man Mensch ist, Geschöpf.» Dieser Satz in Simone Weils Notizheft verdankt sich ihrer Fabrikerfahrung. Es geht in der Demut nicht um die Abwertung meiner selbst als Person, sondern um Anerkennung der condition humaine. Menschsein heisst, begrenzt und verletzlich sein. Alles, was ich bin und habe, kann mir unter Umständen genommen werden. Ein schmerzvoller Gedanke, den man meist verdrängt. Wir leben im Modus der Abwehr und der Sicherung.
Doch wir können Grenzen nicht nur als beschränkend, als demütigend empfinden und uns daran aufreiben; wir können uns auch einlassen auf das, was ist, und Leben in aller Bruchstückhaftigkeit lieben. Wir haben die Fähigkeit, Begrenztheit wahr- und anzunehmen: ich bin hier und jetzt, dies ist der Raum, die Zeit, die mir gegeben sind. Es ist ein mystisches Verhältnis zur Realität – jenseits der Alternative von Widerstand und Ergebung – das Simone Weil skizziert. Demut bedeutet, sich zu inkarnieren, gegenwärtig zu leben. Dabei geht es immer auch um ein Gestalten. Im Unterschied zu einem zynisch-frustrierten Verständnis der Realität, das nur actio und re-actio kennt, spricht Simone Weil von einem Handeln, das Achtsamkeit und einen Moment der Zurückhaltung impliziert.
Die Demut der Aufmerksamkeit
Simone Weil wird gegen Ende ihres kurzen Lebens inkarnierter und «sanfter». Dies hängt entscheidend mit der Aufmerksamkeit zusammen, die zur zentralen Kategorie ihres Denkens wird. Die kostbarsten Güter, so Weil, kann man nur erwarten. Aufmerksamkeit besteht aus der Fähigkeit, das Denken offen und in der Schwebe zu halten, leer und bereit zu empfangen. Aufmerksamkeit ist Demut, da sie einen Moment des Nicht-Eingreifens impliziert.
Gegenbegriff zur Aufmerksamkeit ist denn auch nicht Zerstreuung, sondern Einbildungskraft (imagination). In der Einbildungskraft legen wir uns die Dinge zurecht und sind nicht hör- und lernbereit. Wir geben für alle Fragen aus uns heraus eine Antwort, aus unseren eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Vorurteilen. Damit schliessen wir uns ein in unsere Welt. So gross diese auch sein mag, wir begegnen in allem nur uns selbst.
«Die Einbildungskraft ist ständig bemüht, die geringsten Ritzen zu stopfen, durch welche die Gnade eindringen könnte.» Die Bedeutung des Christentums liegt für Simone Weil in der Erkenntnis, dass Heil uns geschenkt wird und wir uns nicht selber retten können. Unsere Aufgabe ist allein, darum zu bitten und die Sehnsucht offen zu halten.
Es ist wohl dieses Nicht-Eingreifen, das Simone Weil dazu verführt, von der Aufmerksamkeit als einem Verzicht auf das Ich zu reden. Es finden sich unglückliche und missverständliche Formulierung in Weils Schriften, die ja zu einem grossen Teil auch nicht für die Öffentlichkeit geschrieben wurden. Von einer Ich-losigkeit kann man insofern reden, als in der Aufmerksamkeit das manipulative, besitzergreifende Ich schweigt. Es geht also mehr um eine Selbstrelativierung als um die Verneinung und Abwertung des Ich.
Der Hinweis auf die Gnade bringt zum Ausdruck, dass beim Handeln aus Aufmerksamkeit eine Leichtigkeit mitschwingt; man bekommt eine neue Sicht auf die Dinge geschenkt, es kommt etwas in Fluss. Die Beschäftigung mit Simone Weil kann helfen, Demut heute neu zu verstehen im Sinn einer Aufmerksamkeit für die Gegenwart, ein gelassenes Warten auf das, was uns entgegenkommt und geschenkt wird.
Erstpublikation in der Schweizerischen Kirchenzeitung, 2021/13
Veranstaltungshinweis:
Simone Weil - Lesung zum 80. Todestag.
Lesung: Angela Büchel Sladkovic und Noëmi Knoch / Musik: Mahdi Al Tashly, Oud
Donnerstag, 24. August, 19.30, Quartierraum Holliger, DOCK8, Holligerhof 8, 3008 Bern
Dr. theol. Angela Büchel Sladkovic (Jg. 1967) ist theologische Mitarbeiterin bei der Fachstelle Kirche im Dialog der Katholischen Kirche Region Bern. Sie doktorierte 2002 mit einer Arbeit über Simone Weil.