Young couple of hikers bound up ridge together

Wie kann es eine Zukunft geben ohne Freundschaften, die auch Schlimmes überdauern? Foto: istock

Aushalten, was eigentlich nicht aushaltbar ist

Sabine Bieberstein über Freundschaft, die über Abgründe trägt

Best of 2022: Die Redaktion publiziert ihre besten Artikel nochmals

(17.04.22)Jetzt, wo der Krieg auch bei uns plötzlich nah ist und mit den Bildern von zerstörten Städten und Menschen auf der Flucht, von Leid und Tod in unsere Leben eindringt, lesen wir vielleicht auch die biblischen Erzählungen vom Leiden und Sterben Jesu dünnhäutiger als in anderen Jahren.

Von Sabine Bieberstein

Jesu Passionsgeschichten erzählen von einer Übermacht, von Willkür und Gewalt, von zerstörtem Leben und dem Zerbrechen aller Sicherheiten. Sie erzählen anhand des Schicksals Jesu davon, aber auch anhand des Schicksals der Menschen, die mit ihm unterwegs waren, sein Leben geteilt, mit ihm gehofft und gelitten haben: seine Freundinnen und Freunde, die wir in kirchlicher Sprache als Jüngerinnen und Jünger kennen.

Was macht Gewalt mit Menschen?

Was macht es mit Menschen, wenn Gewalt überhand nimmt und es kein Entrinnen gibt? Die Evangelien lassen uns in menschliche Abgründe blicken, wenn sie davon erzählen, dass einer aus dem engsten Kreis um Jesus seinen Freund verrät und ihn damit dem Tod ausliefert, und ein anderer, vielleicht der engste Freund Jesu, ihn dreimal verleugnet, als er gefragt wird, ob er nicht auch zu diesem Jesus gehöre. Als Jesus im Garten Getsemane mit dem Bevorstehenden ringt, lassen ihn seine Freund:innen allein mit dem, was einer allein gar nicht tragen kann, und bei seiner Verhaftung fliehen sie alle. So panisch ist die Flucht, dass einer sogar sein Gewand in der Hand der Schergen zurücklässt und buchstäblich mit dem nackten Leben davonkommt (Mk 14,51–52).

Aber es geht in den Evangelien nicht darum, mit dem Finger auf die damaligen Jünger:innen zu zeigen. Vielmehr zeigen die Erzählungen anhand dieser Figuren, wovor niemand gefeit ist: unter der Bedrohung zu zerbrechen und alles zu verraten, was einem oder einer bislang heilig war. Als Jesus bei seinem Abschiedsmahl ankündigt, dass jemand unter denen, die mit ihm am Tisch sitzen, ihn verraten würde, fragen die Anwesenden nicht etwa, wer es denn sei, sondern: »Doch nicht etwa ich?« Niemand kann sicher sein, nicht auch in eine Lage zu kommen, in der er oder sie so etwas Undenkbares tut. Es ist ein schonungsloser Blick in menschliche Abgründe – und zugleich ein schonungsloser Blick darauf, was Gewalt mit Menschen machen kann.

Freundschaft gegen Zerstörung

Bei diesem Verrat an der Freundschaft bleibt es in den Evangelien aber nicht. Ja, Jesus stirbt diesen furchtbaren Tod am Kreuz. Und ja, er wurde verraten und verlassen, von seinen engsten Freund:innen, ja sogar von Gott, wie er es ihm zum Schluss entgegen schreit: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mk 15,34) Aber dann, an diesem dunkelsten Punkt, zeigt sich, dass doch noch Freundinnen da sind: Die Frauen aus der Jesusgemeinschaft schauen von weitem zu (Mk 15,40–41). Sie sind nicht geflohen. Sie sind da geblieben. Sie schauen hin. Sie halten aus, was doch eigentlich nicht auszuhalten ist.

Es bleibt also nicht beim Verleugnen und Verlassen. Es gibt eine Spur, die weiter führt, und die beginnt beim solidarischen Dableiben und der gegenseitigen Stärkung der Freundinnen. Diese sind es dann auch, die im leeren Grab die Botschaft erhalten, dass Gott Jesus auferweckt hat. Die Jünger:innen – und hier wird besonders Petrus genannt – würden den Auferstandenen in Galiläa sehen (Mk 16,7). Was ist dies anderes, als eine zweite Chance für Petrus?

So erzählt es auch das Johannesevangelium über die Begegnung zwischen Petrus und dem Auferstandenen: Dreimal wird Petrus gefragt, ob er Jesus liebe – dreimal hatte er ihn verleugnet. Petrus versteht und wird traurig. Aber er darf neu anfangen (Joh 21,15–17).

Die Freundschaft Jesu zu den Seinen hat den Zerbruch überstanden. Unvorstellbar: Vergebung und Versöhnung sind möglich. Vielleicht kann das nur ein Auferstandener. Vielleicht lässt sich das aber auch von ihm lernen. Wie soll es sonst eine Zukunft geben? Und ist es nicht genau das, was Ostern bedeutet?