Azza Karam hält die diesjährige Weltethos Lecture.
Azza Karam: «Wenn Abtreibung ein Thema bei Wahlen ist, dann ist Religion politisch»
Azza Karam hält die diesjährige «Hans Küng – Weltethos Lecture» an der Universität Luzern. Mitverantwortlich für die aktuellen Krisen sei auch ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und eine allgemein frauenfeindliche Stimmung, die auch durch religiöse Institutionen getragen würde.
Magdalena Thiele
«pfarrblatt»: Sie werden an der «Weltethos Lecture» über Geschlechtergerechtigkeit sprechen. Für viele ist das ein abstrakter Begriff. Was heisst das konkret?
Azza Karam: Bei Geschlechtergerechtigkeit geht es darum, wer wir sind und was wir fühlen, wie wir leben und miteinander umgehen. Geschlechtergleichheit bedeutet, dass Menschen jederzeit unabhängig ihrer Identität, ihres Selbstbildes und ihrer sexuellen Orientierung gleichen Zugang zu allen Menschenrechten haben.
Jede Person sollte Würde und Respekt erfahren, egal, wie man sich definiert oder wer man ist. Das gilt für alle: für Menschen mit Behinderungen, für Junge und Alte, für Braune, Schwarze und Gelbe. Es spielt keine Rolle, denn es läuft letztendlich auf das grundlegende Verständnis hinaus, dass wir Menschen sind.
Also eigentlich reden wir über viel mehr als Gender?
Karam: Ja, es geht um unsere Identität. Das Geschlecht ist dabei das Fundament, das alle anderen Aspekte unserer Identität zusammenhält. Die Selbstwahrnehmung und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, sind Grundlage aller Beziehungen. Deshalb ist Geschlecht so wichtig.
Warum ist das, was Sie als Geschlechtergleichheit beschreiben, auch aus einer religiösen Perspektive wichtig?
Karam: Bei Gerechtigkeit geht es ganz allgemein darum, dass wir alle die gleichen Chancen und Pflichten haben. Es ist im Kernd genau das, was alle Glaubensrichtungen vertreten: In den Augen des Schöpfers sind wir in unsere Natur alle gleich. Alle Religionen, einschliesslich der indigenen, die das Heilige in der Natur sehen, sagen dass wir gleiche Zugriffsmöglichkeiten haben sollten auf alles, was uns die Natur schenkt. Aber wir haben auch die Verpflichtung, einander und der Natur Respekt zu zollen. Wir sind verantwortlich für das, was wir geschaffen haben.
Aber inwiefern spielt das soziale Geschlecht dabei eine Rolle?
Karam: Es sind vor allem Männer, die Institutionen vorstehen und die sowohl religiös als auch politisch den Ton angeben. Aber das war nicht immer so. Es gab immer wieder Zeiten, in denen Frauen Schlüsselrollen in Gemeinschaften, in Religion, Philosophie eingenommen haben. Je sichtbarer Frauen in Verantwortungspositionen waren und sind, desto stärker ist bis heute die Gegenreaktion. Hildegard von Bingen ist nur ein Beispiel für Frauen, die nicht nur interpretierten, sondern auch Gemeinschaften leiteten. Im Laufe der Zeit wurden solche Frauen beiseitegeschoben und die männlich dominierten Strukturen und Institutionen rückten ins Zentrum.
Und das ist ein Problem. Denn Geschlechterdynamiken beeinflussen solche Trends. Die Art und Weise, wie wir auf miteinander umgehen, ob männlich, weiblich oder in welcher Form auch immer, ist der Grundstein für viele der sozialen, politischen, kulturellen oder sogar finanziellen Dynamiken, die wir momentan erleben.
Frauenfeindlichkeit befeuert Ihrer Ansicht nach allgemeine gesellschaftliche Konflikte?
Karam: Wir sind mitten in einer frauenfeindlichen Ära. Menschen verfolgen ihre eigenen Interessen auf Kosten anderer. Es ist ihnen egal, was drumherum passiert. Und genau diese «Es ist mir egal»-Einstellung ist ein grundlegendes Merkmal von Misogynie. Das manifestiert sich unter anderem darin, wie bestimmte Wahlentscheidungen getroffen werden, zum Beispiel bei der Präsidentschaftswahl in den USA.
Sie vertreten die Meinung, dass auch religiöse Praktiken die Wahrnehmung von Geschlecht und Rollenbildern prägen. Was davon ist wirklich religiös und was kulturell bedingt?
Karam: Für mich hat die Unterscheidung zwischen Religion und Kultur nie Sinn ergeben. Das bleibt ein typisch europäischer Mythos der Aufklärung, dem wir unterworfen sind. Ich glaube nicht, dass man das, was Menschen glauben, von ihrem Verhalten trennen kann. Wir sollte aufhören, Glauben und Verhalten – also Religion und Kultur - als getrennte Realitäten zu sehen. Dann können wir beginnen, ein besseres, ganzheitlicheres und tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie Menschen sich verhalten; den Umgang miteinander, Institutionen, Kunst, der Natur und allem anderen.
Ist Religion politisch?
Karam: Der Versuch, zwischen Religion und Politik zu unterscheiden, hat ausserhalb Europas nie funktioniert. Schauen wir uns den Nahostkonflikt an, dort sind politische Fragen aufs Engste mit religiösen Hartlinern verbunden.
Wenn wir von Säkularität reden, belügen wir uns selbst?
Karam: Genau. Auch in säkularen Ländern wie der Schweiz zahlen Regierungen Geld an Kirchen. Religiöse Führer nehmen an Konferenz über Umweltfragen teil und haben einen Sitz und bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Religion spielt eine grosse Rolle. Nicht zufällig wurde Abtreibung zu einem der entscheidenden Themen im US-Wahlkampf. Politiker nutzen Religion und religiöse Akteure nutzen Politiker. Und dabei geht es um Geschlecht und Geschlechtergerechtigkeit. Denn wenn Abtreibung ein Thema in politischen Wahlen ist, dann ist Religion ein politisches Thema.
Weltethos-Lecture
Azzra Karam war zwei Jahrzehnte für die Vereinten Nationen in New York tätig. Sie war Präsidentin und Geschäftsführerin der Women‘s Learning Partnership sowie Generalsekretärin der World Conference of Religions for Peace.
Die «Hans Küng – Weltethos Lecture» findet am 25. November 2024 statt.
Beginn: 18.15 Uhr.
Ort: Universität Luzern, Hörsaal 1 (Frohburgstrasse 3)