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«Baustelle»
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Kurz nach Ostern – ich treffe die Patientin im Lehnstuhl am Fenster sitzend in ihrem Zimmer an. Ihr Blick ist auf die Fassade des neuen Anna-Seiler-Hauses gerichtet. Scheinbar hat sie da einen Punkt fixiert, den sie gedankenverloren anstarrt. Ich überlege kurz, wie ich den Einstieg ins Gespräch gestalten soll – denn von «herrlichem Ausblick und Blick auf die Berge», gar «Weitblick», kann wirklich nicht die Rede sein!
Diese Entscheidung nimmt mir die Patientin dann rasch ab, indem sie sagt: «Dieser Ausblick passt zu meiner Situation. Ich starre an eine Wand und komme nicht weiter.» Anschliessend berichtet sie über ihre Krankheit und davon, wie sie immer mehr an Mobilität und Selbstständigkeit verliert, sich dadurch als grosse Belastung für ihre Familie empfindet. Im Haus könne sie schon lange nicht mehr die nötigen Arbeiten verrichten, geschweige denn den grossen Garten bestellen und unterhalten. «Baustelle über Baustelle!»
Ich erzähle, dass ich gerade ein Buch* lese, in dem «Baustellen» als Metapher verwendet werden. Martin Werlen erzählt über das grosse Umbauprojekt in der Propstei St. Gerold und schafft dabei immer wieder Bezüge zu herausfordernden Lebenssituationen. Diese bezeichnet er als «Baustellen», welche einen Prozess fordern und Veränderung zur Folge haben. Beides von der Hoffnung getragen/begleitet, dass nach dem Überwinden und sich «einlassen können», der neue Zustand gut ist und wieder Ruhe einkehren wird.
Dieser Bezug gefällt der Patientin gut und lässt uns über ihre persönlichen Herausforderungen sprechen, welche ihr das Leben stellt. «Eigentlich passt das alles ja ganz gut zu Ostern» meint sie und weist mit der Hand auf den bereits leicht verwelkten Narizissenstrauss, den ihr Sohn an Ostern vorbeigebracht hat.
*Werlen, Martin (2024). Baustellen der Hoffnung - Eine Ermutigung, das Leben anzupacken. Verlag Herder GmbH.