Volker Reinhardt lehrte als Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Im August 2023 wurde er emeritiert. Foto: zVg
Brot für die Armen und Bilder als Propaganda
Kirchengeschichte: Wo die Kirche eine Vorreiterrolle übernommen hat
Die katholische Kirche erscheint vielen Zeitgenossen als rückständig. Mit ihrer antiquierten Sexualmoral und ihrer Haltung zum Frauenpriestertum vermittelt sie den Eindruck, gesellschaftlichen Entwicklungen hinterherzuhinken. Doch das war nicht immer so. Für den Historiker Prof. em. Volker Reinhardt hat sich die Kirche im Laufe der Geschichte mehrfach als Vordenkerin und Vorreiterin hervorgetan.
Interview: Detlef Kissner
Aus der Kirche kamen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder wichtige gesellschaftliche Impulse.
Volker Reinhardt: Ja, bereits um 600 n. Chr. entwickelt sie eine grundlegende Wirtschaftsethik, im 11. Jahrhundert setzt sie sich für eine Vertiefung des Christentums ein, 1348 schreitet ein Papst mutig gegen die Verfolgung von Juden ein, im 15. Jahrhundert leitet das Papsttum eine «Medienrevolution» ein, Ende des 16. Jahrhundert gelingt einer gelehrten Kirchenführung die Durchführung einer Kalenderreform und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts warnen die Päpste vor einer zu positiven Sicht des Freihandels.
Danke für diesen Überblick. Beginnen wir mit der Kirche Ende des 6. Jahrhunderts.
Im antiken Rom gilt die Regel: Wer als Kaiser politisch überleben will, muss die Unterschicht der Millionenstadt Rom mit billigem Brot versorgen. Hunger ist der Nährboden für Aufstände. Mit dem Niedergang Roms übernehmen die Päpste zunehmend die Aufgaben des Kaisers. Sie versorgen auch die Armen mit Brot, verbinden dies aber mit einer neuen christlichen Ethik, die hervorhebt, dass Christus den Armen nähersteht als den Reichen. Papst Gregor I. (590-604 n. Chr.) schreibt diese Wirtschaftsethik für die kleinen Leute fest. Sie ist bis heute eine Verpflichtung für das Papsttum.
Welche Mittel hat Kirche dafür?
Die Kirche ist um 600 bereits begütert. Sie hat durch Nachlässe Land bekommen, das ihr Ertrag bringt. Papst Gregor I. kann aus eigenen finanziellen Mitteln das Brot billig halten. Das ist ein Leitfaden bis zum Ende der päpstlichen Souveränität im Jahr 1798. Die Päpste stecken über all die Jahrhunderte Milliardenbeträge in die Subvention des Brotpreises.
Kann man darin eine Wurzel der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts sehen?
Ja, diese Ethik lebt in der katholischen Soziallehre fort. Diese ist eingebettet in eine grössere Entwicklung. Im 18. Jahrhundert kommt die Idee des Freihandels auf. In Europa bestehen zu dieser Zeit überall Handelsschranken. Bedeutende Ökonomen wie Adam Smith (Schottland) oder Anne-Robert-Jacques Turgot (Frankreich) entwickeln die Theorie, dass ein freier Welthandel Ausgleich schaffen kann, wenn in einem Land die Ernte schlecht ausfällt.
Dieser Ansatz ist grundsätzlich eine gute Idee, er bedarf aber einer sozialen Abfederung. Dies sehen auch die Päpste so. Sie reagieren skeptisch auf den Freihandel und betonen immer wieder, dass der Zweck der Wirtschaft der Schutz der Armen ist.
Was stossen die Kirchenoberen im 11. Jahrhundert an?
Das ist das kühnste Projekt, das die Kirche jemals unternommen hat. Geistliche und Kirchenführer stellen immer wieder fest, dass der christliche Glauben vor allem in ländlichen Gebieten nicht in die Tiefe gedrungen ist, sondern ältere heidnische Vorstellungen nur notdürftig überdeckt hat. Diese Einschätzung stimmt wohl aus heutiger Sicht. Natürlich feiert man auf dem Lande Gottesdienste und betet zu den Heiligen, dahinter verbergen sich aber naturmagische Vorstellungen.
Es hat immer wieder Versuche gegeben, Europa wirklich christlich zu machen, aber mit wenig Erfolg. Im 11. Jahrhundert wird dieser Plan erstmals konsequent verfolgt. Ab dem Reformpapst Gregor VII. (1073-1085) versucht man das Christentum in den Alltag zu transportieren. Das ist aber auch mit einem Machtkampf verbunden.
Wie äussert sich dieser?
Bisher war es üblich, dass die weltlichen Herrscher die höchsten kirchlichen Positionen mit ihren Anhängern besetzten. Dabei wurde kaum auf Bildung und Eignung geachtet. Papst Gregor VII. (1073-1085) besteht nun darauf, alle geistlichen Würdenträger selbst einzusetzen – und zwar aufgrund ihrer Qualitäten.
Es kommt zum sogenannten Investiturstreit. Wer die führenden Geistlichen einsetzt, hat die Macht. Der Kaiser will die Macht behalten. Der Papst ist der Meinung, geistliche Würdenträger dürfen nur von der Kirche eingesetzt werden. Sein Hauptziel ist, das Christentum von einem toten Buchstaben zu einer Lebenswirklichkeit zu machen. Ob dies letztlich gelungen ist, ist fraglich.
Wie möchte man dieses Ziel erreichen? Mit Unterweisungen?
Ja, man strebt eine bessere Bildung der Gläubigen an. Das ist eine Frage, die sich durch die Kirchengeschichte zieht. Auf dem Konzil von Trient (1545-63) erkennt man, dass Priester besser ausgebildet werden müssen, um die Gläubigen unterrichten zu können. Nach Trient werden in der katholischen Kirche erstmals systematisch Priesterseminare eingerichtet.
Das Jahr 1348 steht für ein kleines, aber bedeutsames Highlight.
Ab Oktober 1347 bricht die Pest über Europa herein, die fürchterlichste Epidemie, die die Menschheit bis dahin erlebt hat. Menschen sterben auf einmal unter grauenhaften Qualen. Viele haben Angst, dass das Weltenende angebrochen ist. Die Mediziner haben keine Erklärung für das massenhafte Sterben. Sie machten giftige Luftschwaden aus dem Weltall für die Epidemie verantwortlich.
Mit der Angst sind auch schnell Schuldzuweisungen verbunden. In Deutschland und Frankreich werden die Juden zu Sündenböcken gemacht und grausame Pogrome an ihnen verübt. Gegen diesen Wahn verfasst Papst Clemens VI. im Jahr 1348 eine Bulle, auf die die Kirche stolz sein darf.
Was steht in der Bulle?
Der Papst schreibt darin, dass die Vorwürfe gegen die Juden böswillige Verleumdungen seien und dass jeder, der Juden deswegen verfolge, aus der Kirche ausgeschlossen werde. Er argumentiert ganz klar: Die Pest ist eine Strafe Gottes, aber sie gilt nicht den Juden. Die Juden haben die Pest nicht verbreitet, denn sie tritt auch da auf, wo es keine Juden gibt. Mit dieser Bulle hat sich der Papst nicht beliebt gemacht.
Was hat es mit der «Medienrevolution» auf sich?
Kunst diente immer schon der Propaganda. Aber ab dem 15. Jahrhundert wird das Bild zielgerichtet als Propagandainstrument eingesetzt. Der neue Stil der Renaissance bringt dreidimensionale Bilder mit komplexem Aufbau hervor, mit denen mehr Botschaften transportiert werden können. Dies nutzen zuerst die Medici in Florenz. Die «Medienrevolution» geht ab 1470 auf Rom und die Päpste über. Das eindrucksvollste Zeugnis dieser Revolution ist die Sixtinische Kapelle, die in zwei Etappen ausgemalt wird.
Wofür werden diese Bilder verwendet?
Die Bilder werden eingesetzt, um elementare Heilsbotschaften des Christentums zu vermitteln und vor allem die Machtstellung des Papstes sichtbar zu machen.
Die Macht der Fürsten und Könige ist erblich. Päpste hingegen werden gewählt und ihre Macht ist durch Christus verbürgt. Diese Begründung der Macht ist für die Menschen damals etwas Unvergleichbares, etwas Abstraktes. Mit eingängigen Bildern kann dieser Zusammenhang besser dargestellt werden als durch eine schwer verständliche Theologie.
Mit der Kalenderreform setzt die Kirche einen weiteren gesellschaftlichen Akzent …
1582 werden einfach 10 Tage gestrichen, d. h. man springt vom 4. auf den 15. Oktober. Das würde sich heute keine Regierung mehr trauen. Das ist eine unglaublich kühne Operation, die sehr sorgfältig vorbereitet und souverän abgewickelt wird.
Zwischen 1560 und 1590 erreicht die Kurie ein Niveau an Gelehrsamkeit, das es später nicht mehr gibt. Ein Stab von hochgebildeten Kardinälen, an deren Spitze Kardinal Sirleto (1514-1585) steht, plant die Kalenderreform. Dabei werden auch grosse Gelehrte wie der dänische Protestant Tycho Brahe konsultiert. Hinzu kommt, dass sich der achtzigjährige Papst Gregor XIII. der intellektuellen Führung dieser «Gelehrtenkurie» (so die grundlegenden Forschungen von Filip Malesevic) anvertraut. Das ist später nicht mehr der Fall.
Und welche Rolle nimmt die Kirche heute ein?
Ich glaube, dass man trotz kosmetischer Zugeständnisse an der Substanz des Amtes so, wie es sich in der Tradition entwickelt hat, festhält. Das zeigt sich auch im Umgang von Papst Franziskus mit dem synodalen Weg. 2019 wirft er den Deutschen in einem Brief Pelagianismus vor. Pelagianismus ist eine spätantike Häresie, die den Menschen zu positiv sieht, die vorgibt, dass er sich aus eigener Kraft zum Guten hinwenden kann.
Ich glaube, dass man in Rom die ganzheitliche Führung durch das Papsttum für unverzichtbar hält, dass das Amt über der Geschichte steht. Zugeständnisse an Sonderwege kämen einer Selbstaufgabe gleich.
Was bedeutet dies für das Frauenpriestertum?
Ich glaube nicht, dass man Frauen zum Priesteramt zulässt. Das würde voraussetzen, dass man das Papstamt neu definiert. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Papst, der in einer so langjährigen Kontinuität und Legitimität steht, dem zustimmt.
In welchen Bereichen könnte die Kirche Vorbild und Vorreiterin sein?
Werte, die sich im Christentum, im Humanismus und auch in der Naturwissenschaft entwickelt haben, muss man nicht pauschal unterschreiben. Aber man muss sich kritisch damit auseinandersetzen, um sie ablehnen, annehmen oder weiterentwickeln zu können. Die Aufgabe der Kirche wäre es, auf das Unverzichtbare und Erhaltenswerte aufmerksam zu machen.