Koscher-Stempel, Hechscher, bescheinigt, dass die entsprechenden Erzeugnisse unter Beachtung der jüdischen Gesetze hergestellt sind. Foto: fotolia, martialredn
Brüchige Gleichberechtigung
150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden
Diesen Monat feiern die Juden in der Schweiz das 150-Jahr-Jubiläum ihrer Gleichberechtigung als Schweizer Bürger. Die neuen Rechte und Pflichten waren jedoch nur ein Meilenstein auf dem langen und holprigen Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung. Die Kirchen spielten dabei als Hinderer beziehungsweise Förderer eine wichtige Rolle. In lockerer Folge zeichnet das «pfarrblatt» dieses Jahr die Etappen der Emanzipationsgeschichte auf.
Es war alles andere als die gepredigte Nächstenliebe, welche im 19. Jahrhundert das Verhältnis der christlichen Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit prägte. Erst das 2. Vatikanische Konzil leitete 1965 eine Kehrtwende ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist. Dass die Schweizer Juden 1866 die Niederlassungsfreiheit im ganzen Land sowie Stimmund Wahlrecht und Militärpflicht erhielten, war vor allem das Verdienst der liberal-bürgerlichen Elite, die sich wiederum dem Druck aus dem Ausland beugte. Juden im benachbarten Frankreich hatten bereits 1791 die vollen Bürgerrechte erhalten, weitere von der Aufklärung geprägte, europäische Staaten folgten.
Im Jahr 1866 gehörte die Schweiz zu Europas Schlusslichtern, welche die Emanzipation ihrer jüdischen Einwohner noch nicht vollzogen hatten. Die Aargauer Gemeinden Endingen und Lengnau waren bis anhin die einzigen Orte, in denen sich Juden niederlassen konnten. Ausgenommen waren die Kantone Waadt und Bern, die unter dem Einfluss Frankreichs bereits 1828 beziehungsweise 1846 die Niederlassungsfreiheit gewährten. Den hochgesteckten Erwartungen bei der Einführung der ersten Bundesverfassung 1848 folgte herbe Enttäuschung: Die Bürgerrechte und -pflichten erhielten nur christliche Männer. Erst mit der Abstimmung vom 14. Januar 1866 befürworteten die Stimmberechtigten die Streichung des Wortes «christlich» im Verfassungstext. Innert weniger Jahre wanderten die meisten Juden in die Städte ab, gründeten neue Gemeinden und bauten neue Synagogen.
Die judenfeindliche Haltung der Kirchen
Die Emanzipation leitete zwar einen rechtlichen Fortschritt ein, änderte aber kaum etwas an der judenfeindlichen Grundhaltung in der Bevölkerung. Nach Erkenntnissen des Luzerner Kirchenhistorikers Markus Ries gehörten im 19. Jahrhundert antijüdische Haltungen zum geistigen Grundbestand des Katholizismus. Tief verwurzelt war diese Haltung auch in zahlreichen protestantischen Regionen. Die liberalen Väter des Bundesstaates kamen hingegen zum Schluss, dass die Schweiz «zum Fingerzeig der europäischen Gesellschaft» geworden sei. An der Debatte um die Emanzipation der Schweizer Juden rieb sich die freisinnige Allianz mit den Konservativen: Erstere sah in der Schweiz eine «Staatsbürgernation», Letztere eine «christliche Nation», welche die Bürgerrechte an den «richtigen» Glauben knüpfte. In ihren Augen bildeten Juden eine Gefahr für Staat und Gesellschaft. Diese Haltung wurde auch vom Vatikan gestützt: Im März 1873 bezeichnete Papst Pius IX. die Juden als «Feinde Jesu», die «keinen anderen Gott hätten als ihr Geld». Auch in den wenig industrialisierten Landregionen der protestantischen Schweiz sollte eine «Verjüdelung der Schweiz» verhindert werden.
Druck aus Frankreich sorgt für Fortschritt
Ausschlaggebend für den Sinneswandel war vor allem der Druck aus dem Ausland gewesen. Das liberal dominierte Bundesbern befürchtete – zu Recht – ein Scheitern von internationalen Handelsverträgen, solange die jüdische Minderheit nicht dieselben Rechte erhielt wie die nichtjüdische Mehrheit. Insbesondere ein Vertrag mit dem starken Wirtschaftspartner Frankreich drohte zu platzen: In Paris galten Juden in erster Linie als französische Bürger, unabhängig ihrer Konfession. Dieselben Personen waren aus Schweizer Sicht in erster Linie Juden und wurden als solche gegenüber den christlichen Franzosen diskriminiert. Die Regierung in Paris machte 1864 die Unterzeichnung des Handelsvertrags von der Gleichbehandlung der jüdisch-französischen Bürger abhängig. Der Bundesrat lenkte ein. Der Vertrag mit Frankreich – von Konservativen auch «Judenvertrag» genannt – führte zur Einsicht, dass nun die Juden in der Schweiz mindere Rechte hatten als jene aus Frankreich. Dies veranlasste den Bundesrat, den Juden in der Schweiz per Abstimmung die gleichen Bürgerrechte zu gewähren.
Die Vorlage wurde mit einem Verhältnis von rund 170000 Ja- zu 149000 Nein-Stimmen angenommen. Die Zustimmung kam vor allem aus der lateinischen Schweiz sowie den Stadt- und Industriekantonen. Die volle Kultusfreiheit erfolgte erst acht Jahre später mit der Verfassungsrevision von 1874. Erstmals seit dem Mittelalter waren damit Juden nicht mehr einem sozialen Sonderstatus oder diskriminierenden Ausnahmegesetzen unterstellt. Trotz der rechtlichen Gleichstellung blieb freilich eine subtile Diskriminierung bestehen: Die jüdische Minderheit genoss nicht überall die gleichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Und nur 19 Jahre verstrichen, bis die Kultusfreiheit mit dem Schächtverbot per Abstimmung wieder eingeschränkt wurde.
Das Schächtverbot – eine Retourkutsche
Das politische Instrument der Volksinitiative wurde 1891 eingeführt – und richtete sich bei seiner ersten Anwendung zwei Jahre später prompt gegen Juden. Zum Initiativkomitee gegen das Schächten zählten «kantonale Tierschutzvereine von Bern und Aargau sowie Antisemiten ». Im Vorfeld hatten über 20 Gutachten hervorgestrichen, dass die Schlachtmethode durch den Schnitt der Luftröhre nicht qualvoller sei als das Zertrümmern des Tierschädels. Nach Gesprächen mit den israelitischen Gemeinden befand der Bundesrat ein unbedingtes Schächtverbot für unnötig, war aber gleichzeitig nur unter bestimmten Voraussetzungen bereit, das Schächten zu gestatten. Die Historikerin Beatrix Mesmer bezeichnete diese Haltung als «salomonisches Urteil».
Den Tierschützern reichte dieser Kompromiss jedoch nicht – was den Rückschluss erlaubt, dass die Schächtkampagne sich zuerst gegen Juden richtete und erst in zweiter Linie für den Viehschutz. Im Mai 1892 lancierten sie die Initiative, 50000 Unterschriften waren nötig. Bereits vier Monate später reichten die Initianten 80000 Unterschriften ein. Drei Viertel kamen in den Kantonen Zürich, Bern und Aargau zustande. Gerade im Kanton mit den einstigen «Judendörfern» Endingen und Lengnau schien die antisemitische Grundstimmung weiterhin tief zu sitzen. Entgegen der Empfehlung von Bundesrat und Parlament nahmen im August 1893 rund 60 Prozent der Stimmberechtigten die Initiative an. Auffällig war der Graben zwischen den Landesteilen: Die Kantone der Romandie und an den südlichen Grenzen stimmten unisono dagegen, während die protestantisch geprägten Kantone der Deutschschweiz die Vorlage befürworteten. Diese antisemitische Demonstration von 1893 zeigte, wie brüchig die Gleichberechtigung der Schweizer Juden wirklich war.
Hannah Einhaus
Hinweis: 150.swissjews.ch Jubiläumsevent im Kornhausforum in Bern am 17. Januar.
Linktipp zum Thema:
«Mehr Attacken gegen Juden in der Schweiz», Tagesanzeiger Online, 20.03.2015