Carl Lutz, Schweizer Vizekonsul in Budapest. Er rettete während des Zweiten Weltkriegs mehrere Zehntausend Jüdinnen und Juden vor dem Tod. Foto: Archiv für Zeitgeschichte / Agnes Hirschi: NL Carl Lutz/ 244
Carl Lutz – eine offizielle Ikone?
Im Zweiten Weltkrieg war die Schweiz nicht immer neutral. Heute erinnert man sich an gute Menschen und Taten. Und die Schattenseiten?
Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg – Europa war zerstört, sechs Millionen Juden ermordet. Die Schweiz als neutrale Friedensinsel ist freilich eine Illusion. Die Forschung hat längst ihre Verstrickungen in das Kriegsgeschehen aufgezeigt. Eine offizielle Gedenkkultur lässt weitgehend auf sich warten. Retter erhalten als Glanzlichter einen Ehrenplatz, doch zu den längst erforschten historischen Fehlern zu stehen scheint weiterhin tabu.
Autorin: Hannah Einhaus*
75 Jahre oder drei Generationen nach Ende der Naziherrschaft täte es der Schweiz gut, auch ihren eigenen Fehlern Platz einzuräumen. Sie sind weitgehend bekannt, teilweise hat sich der Bund offiziell entschuldigt, aber eine Erinnerungskultur existiert kaum. Einige Stichworte: Die Einführung des «J-Stempels» in Pässen deutscher Juden erfolgte massgeblich auf Anregung der Schweizer Behörden. Laut Bergier-Bericht kam es an den Schweizer Grenzen zu fast 25'000 Rückweisungen von jüdischen Flüchtlingen – faktisch ein Todesurteil. Eine im letzten Oktober erschienene Studie (siehe Buchtipp unten) hat aufgezeigt, dass fast 400 Schweizer in deutschen Konzentrationslagern steckten und kaum mit der Hilfe der diplomatischen Vertretungen im Ausland rechnen konnten, weil sie als Juden, Roma, Sinti oder Kommunisten ohnehin nur Schweizer zweiter Klasse waren. Dazu kamen Schweizerinnen, die Ausländer geheiratet hatten: Sie verloren ihr Bürgerrecht – fatal für Jüdinnen, die nach der Heirat ins Ausland zogen. Sowohl sie als auch ihre Kinder verloren den Schutz der Schweiz. An den Grenzen und auf den Konsulaten nützten ihnen weder ein Schweizer Dialekt noch in der Schweiz wartende Angehörige für eine Wiedereinreise.
Ist die offizielle Schweiz heute, 75 Jahre nach Kriegsende, reif für eine Gedenkkultur, die diesen Namen verdient? Rückblickend auf eine Veranstaltung der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) in Bern Ende Januar 2020 ist dies zu bezweifeln: Nationalratspräsidentin Isabelle Moret – in ihrer Funktion die höchste Schweizerin des Landes – schwärmte zu zwei Dritteln ihrer Rede von den Rettungstaten des Diplomaten Carl Lutz, der in Budapest Zehntausenden Juden das Leben gerettet hatte. Die damaligen Taten verdienen allerhöchste Anerkennung und Respekt, ohne Wenn und Aber. Über Morets Lippen kam jedoch keine Silbe von Selbstkritik der Schweiz über jene Zeit. Morets Rede jedenfalls wirkte wie ein verzweifelter Griff nach einem Rettungsring. Einige «Gute» wie Lutz oder der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger haben – erst posthum – von offizieller Seite Anerkennung und Dank erhalten. Das Gedenken an die Opfer des Holocaust und weitere Auslandschweizer*innen sowie die Reflexion über die Täterrolle der Schweiz überlässt Bundesbern jedoch weiterhin Privaten und Israel. Nutzen die Offiziellen Lutz als Ikone, die sie präsentieren können, um von ihren eigenen Schattenseiten abzulenken?
Zu einer fruchtlosen Diskussion über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust ist es bereits mehrfach gekommen: In den 1960er Jahren, als es um Entschädigungsfragen ging, warf eine Autorengruppe um Max Frisch die Rolle der Schweiz und ihrer historischen Verantwortung kurz auf. Doch blieb sie ein kurzes Geplänkel unter Intellektuellen, das bald versandete. Zu leicht liess sich die Vergangenheit mit dem Bild der humanitären, neutralen Schweiz verdrängen. Im Rahmen des Bergier-Berichts 2002, der die wirtschaftlichen Verflechtungen und die Rückweisungspolitik jüdischer Flüchtlinge belegte, entflammte erneut eine Debatte. Daraus abgeleitet sind erste Lehrmittel entstanden, doch auch hier wurde es bald ruhig.
Noch legen hochbetagte Überlebende vor Schulen und in Videos Zeugnis ab, doch sie werden schon in naher Zukunft nicht mehr unter uns sein. Welche offizielle Gedenkkultur über die damalige Rolle der Schweiz und ihren helvetisch geprägten Antisemitismus wäre also angemessen? Eine Arbeitsgruppe aus Wissenschaft und Politik erarbeitet derzeit ein Konzept für ein staatliches Denkmal, welches verschiedenen Ansprüchen gerecht werden: Der Bund soll der Opfer des Nationalsozialismus und der Schoah – insbesondere der Schweizer Opfer – gedenken, (Selbst-)Kritik an der damaligen Rückweisungspolitik üben und gegenüber allen Helfern jener Zeit Dank aussprechen. Zu fördern wäre zudem jegliche Form von Wissensvermittlung, die dazu beiträgt, daraus für die Zukunft Lehren zu ziehen. Auch im Wissen um andere Prioritäten im Jahr von Corona: Ein Zeichen des Bundesrats noch in diesem Jahr, 75 Jahre nach Kriegsende, wäre wünschenswert.
* Die Historikerin Hannah Einhaus vertritt in der erwähnten Arbeitsgruppe die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA) Schweiz.
Buchtipp
Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reiches. Verlag NZZ Libro, Basel 2019. 320 S., CHF 48.–.
Rezension:
Schweizer KZ-Häftlinge erhalten wieder einen Namen
Die 2018 gegründete Carl Lutz Gesellschaft lud am 12. Februar 2020 zu einer Gedenkfeier zum 125. Geburtstag und 45. Todestag von Carl Lutz ein, der als Vizekonsul der Schweizer Gesandtschaft in Budapest 1944/45 Zehntausenden Juden das Leben rettete. In der Berner Pauluskirche, wo er seine erste Frau Gertrud Lutz-Fankhauser geheiratet hatte, fand ein Gedenkkonzert mit den drei jungen Geschwistern Anatol, Manoush und Anouk Toth statt. Deren Urgrossvater arbeitete zur Kriegszeit als Übersetzer für die Schweizer Gesandtschaft. Vorgetragen wurden zudem ungarische Gedichte. Eine Ausstellung von Ehrungen und Auszeichnungen ergänzte die Feier. Agnes Hirschi (Foto), Ziehtochter von Carl Lutz, präsidiert die Carl Lutz Gesellschaft, welche Initiativen im Bereich der Zivilcourage lanciert, fördert und unterstützt. Hannah Einhaus
Agnes Hirschi. Foto: zVg.
Interview mit Agnes Hirschi, der Ziehtochter von Carl Lutz:
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