Ökumene ist Kirche – und immer auch Vielfalt. Foto: Pia Neuenschwander

Christina aus der Au über ökumenisches Lernen heute

Christina aus der Au plädiert für ein Anerkennen der Differenzen zwischen den Konfessionen und ein Lernen daraus.

Ökumene soll sich nicht aufs Gemeinsame, sondern auf die Differenzen zwischen Konfessionen und Religionen konzentrieren: ein Plädoyer für ein wechselseitig anerkennendes ökumenisches Lernen, bei dem man die eigene Position miteinbezieht.

Christina Aus der Au

Auch wenn der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill den Krieg gegen die Ukraine als Heiligen Krieg bezeichnet, auch wenn sich die römisch-katholische Kirche mit dem Synodalen Weg schwertut, und auch wenn sich die Reformierten gerne selber säkularisieren – zur Ökumene gibt es keine Alternative.

In der Ökumene konzentrieren wir uns auf das Gemeinsame. Wir entwickeln in der Auseinandersetzung mit dem Anderen das Eigene und finden in der Vielfalt der gelebten Glaubenstraditionen die Einheit des christlichen Glaubens, weil wir im Grundkonsens übereinstimmen.

Der Auftrag ökumenischen Lernens sei, so der Grundtenor in «Ökumenisch lernen – Ökumene lernen», das verbindende Moment herauszustellen. Die Autor:innen des Buchs fokussieren auf das Bestreben nach Einheit, nach Zusammengehen, nach Überwindung der Spaltungen. Das gilt insbesondere für den Religionsunterricht, heisse er nun ökumenisch, interkonfessionell, konfessionell-kooperativ oder christlich.

Nur: Ist es wirklich das Ringen um Einheit, das wir hier und heute, in unserer gesellschaftlichen, nationalen und weltweiten Lage am nötigsten haben? Vielmehr, als dass wir alle zu einem «Leib» gehören, erstaunt mich, dass so Unterschiedliches zu diesem Leib gehört. Hand und Fuss, Auge, Ohr und Nase – aber ja, auch Herz und Leber und Kniegelenk und Zirbeldrüse und Schlüsselbein, ja sogar der Blinddarm. So würde ich den Satz und die Betonung des Paulus gerne umdrehen: «So gibt es nur einen Leib, aber viele Glieder» (1. Kor. 12,20).

Es ist einfach, einig zu sein, wenn man sich auf das Verbindende konzentriert. Das kann jeder Algorithmus, der uns unsere Lieblingsvideos auf Youtube oder Instagram anbietet. So landen wir in Filterbubbles – oder eben in der Kirche. Da gibt es ökumenische Vielfalt, aber es ist immer noch Kirche. Wie wär’s, wenn wir es umdrehen: Ökumene ist Kirche – aber es ist immer auch Vielfalt. Weil unser Grund und unsere Wahrheit keine Schrift und keine Lehre ist, sondern Jesus Christus, ist Vielperspektivität hier von Grund auf angelegt.

Respektvolle Anerkennung des Anderen

Heinrich Bullinger schreibt 1566 im zweiten Helvetischen Bekenntnis: «Daher lesen wir, dass bei den Alten zwar mannigfaltige Verschiedenheit in den gottesdienstlichen Gebräuchen bestanden habe, dass sie aber eine freie Mannigfaltigkeit gewesen sei und niemand gedacht habe, dass dadurch die Einheit der Kirche je aufgelöst werde.»

Was für ein Vorbild könnten wir in der heutigen Gesellschaft von Spaltungen und Polarisierungen, von Shitstorms und Cancel Culture sein, wenn wir nicht mehr die Einheit, sondern vielmehr die Fähigkeit von Kirche betonten, in all ihren Formen und Ausprägungen dem Anderen wirklich und respektvoll zu begegnen – andere nicht nur zu tolerieren, sondern als Glied am Leib Christi anzuerkennen, bei bleibender Differenz und vielleicht sogar bei bleibendem Nichtverstehen dort, wo es schmerzt. Auch und gerade, wenn es schmerzt.

Das ist doch heutzutage die drängende Herausforderung: Nicht das Gemeinsame zu suchen, nicht das Eigene, auch nicht das verbesserte Eigene, sondern das Andere, das Trennende, das Spaltende in der Kirche wahrzunehmen und diesem standzuhalten. Daran zu leiden, es nicht überbrücken zu können, einander nicht näherzukommen – und doch daran festzuhalten, dass dies Ökumene ist. Sein muss. Faust versus Ellbogen am Leib Christi.

Ökumenisches Lernen besteht darin, diese freie Mannigfaltigkeit zu entdecken, ohne sie in Eigenes umwandeln zu müssen; mit existenziellen Unterschieden umgehen zu lernen, ohne das Andere zu vereinnahmen; sich Andersdenkenden, Andersglaubenden auszusetzen, sich mit ihnen auseinandersetzen, zu streiten, ringen, ernsthaft und existenziell, ohne dass dadurch die Einheit der Kirche aufgelöst wird – eine engagierte und gelassene Auseinandersetzung mit der Vielfalt.

Das Auge hat nicht für die Einheit des Leibes zu sorgen, ebenso wenig wie der kleine Zeh. Dabei ist die Ambiguitätstoleranz – mit unauflöslichen Differenzen umgehen zu können – das eine. Dabei nicht in einen Relativismus zu verfallen, ist das andere. Denn es ist mir nicht egal, ob eine Gruppierung von Christ:innen homophob, nationalistisch oder patriarchal ist.

Es ist mir nicht egal, ob Frauen Pfarrerinnen und Priesterinnen werden können, ob gelehrt wird, dass die Ungläubigen in die Hölle kommen oder ob ein Land mit dem Segen der Kirche ein anderes überfallen darf. Gerade weil diese «Anderen» sich auf das Evangelium berufen, weil auch sie Teil des Leibes Christi sind, bin ich herausgefordert. Das Evangelium ist radikal universalistisch.

Christus ist der von uns nicht gelegte Grund für die gesamte Kirche. So kann ich nicht anders, als das Christentum radikal in universalen evangelischen Begriffen zu verstehen – nicht konfessionell, sondern als im Evangelium gegründet.

Existentielle Streitkultur

Das Evangelium lässt sich dabei nie als Objekt des Denkens und Wissens verstehen, sondern nur, indem wir mit Gott, Jesus und unseren Mitmenschen in Beziehung treten. Nicht abstrakt, sondern als konkrete Kirche(n). Feiernd, singend, betend, aber auch diskutierend, streitend, uns herausfordernd, ringend, um die Wahrheit und die Einheit in bleibender Unterschiedlichkeit und genau darin Leib Christi auf Erden.

Das ist mein Plädoyer für die Ökumene – nicht als Ringen um Einheit, sondern als bleibende, fortwährende, zuweilen heftige und existenzielle Streitkultur, die den anderen radikal herausfordern kann. Dies, weil sie die Einheit in Christus voraussetzt und nicht anders als in dieser dialogischen Beziehung zu diesem Christus und den Gliedern seines Leibes leben kann.

Ökumenisches Lernen ist das Einüben der wechselseitigen Anerkennung des Anderen als solches. Dies ist mehr als Wahrnehmung, mehr als Kenntnisnahme, sie ist eine Gabe aus der Freiheit, sich als Glied des Leibes Christi zu wissen. Dies im Bewusstsein der Verantwortung für andere, die sprechen lässt. Dabei achtsam zuhören, gegebenenfalls widersprechen, aber immer – immer! – im Gespräch bleiben. Zu dieser Ökumene gibt es keine Alternative. Nicht für die Kirche und nicht für die Welt.

Nicola Ottiger, Eva Ebel, Christian Höger (Hg.): Ökumenisch lernen – Ökumene lernen. Perspektiven für Religionsunterricht und kirchliche Handlungsfelder, 2024.