Dalia Schipper ist Co-Präsidentin der jüdischen Gemeinde Bern. Foto: Stefan Maurer
Dalia Schipper: «Antisemitismus ist in der Schweiz genetisch»
«Polarisierung beendet keine Kriege», sagt Dalia Schipper, Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern.
Antisemitismus sei gesellschaftlich tief verankert, sagt die Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern. Sie wünscht sich einen Diskurs über die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg. Die martialischen Töne in der Nahostdebatte bereiten ihr Mühe. «Polarisierung beendet keine Kriege», sagt Dalia Schipper.
Interview: Annalena Müller
Mitte Juli rief das «Jüdische Forum Gescher» zu einem offenen, pluralistischen Dialog in der Israel-Debatte, der die Menschen ins Zentrum stellt. Bisher haben mehr als 400 jüdische Personen in der Schweiz unterschrieben. Darunter auch Dalia Schipper, Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern. Im Gespräch mit dem «pfarrblatt» äussert sich Schipper als Privatperson.
«pfarrblatt»: Frau Schipper, Sie sind eine der Erstunterzeichnerinnen des offenen Statements des «Jüdischen Forums Gescher». Warum haben Sie den Brief unterschrieben?
Dalia Schipper*: Seit dem 7. Oktober hat es viele Aktionen und auch offene Briefe gegeben, die Bezug auf die Situation im Nahen Osten nehmen. Aber diese waren mir zu polarisierend. Hinter der Formulierung und der Haltung des Statements kann ich voll stehen
Was ist anders an diesem Statement?
Schipper: Zum einen, die ganz klare Aussage, dass wir uns als jüdische Schweizer:innen dazu äussern dürfen, müssen und wollen. Wir tun dies vor dem Hintergrund der sicheren Schweiz. Aber wir alle haben Verwandte und Freunde in Israel.
Es ist angebracht, dass sich Schweizer Jüdinnen und Juden zu der Situation in Nahost äussern.
Obschon wir zum Teil seit Generationen in der Schweiz leben, war das Wissen, dass es mit Israel einen Staat gibt, wo man als jüdischer Mensch sicher sein kann, auch hier zentral. Und diese Gewissheit wurde am 7. Oktober 2023 zerstört. Darum finde ich es angebracht, dass sich Schweizer Jüdinnen und Juden zu der Situation in Nahost äussern.
…Das aber ist seit dem 7. Oktober durchaus geschehen…
Schipper: Ja, aber immer polarisierend. Und genau das ist hier nicht der Fall. Im Zentrum stehen humanistische und keine martialischen Aspekte.
In dem Statement heisst es:
«Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind grundlegende Bausteine unserer liberalen, demokratischen Gesellschaften (…) Es sind diese humanistisch-liberalen Werte, die wir vermehrt ins Zentrum der Debatte rund um den Nahostkonflikt und um den Antisemitismus in der Schweiz stellen möchten.»
Wie könnte ein konstruktiver Ton in der Debatte über die Geschehnisse in Nahost erreicht werden?
Schipper: Hier ist die Frage nach dem «Wo» wesentlich. Im Nahen Osten selbst dürfte das kaum realistisch sein. Aber ich glaube, dass wir in der Schweiz durchaus eine konstruktive Debatte erreichen können. Worte machen Dinge – und wenn wir versuchen, die Dinge anders zu benennen und von einer anderen Seite zu betrachten, denke ich, dass wir die Debatte beeinflussen können.
Auch in der Schweizer Gesellschaft sind die Gräben tief. Studierende haben Universitäten besetzt und forderten unter anderem zum Boykott Israels auf und an Demonstrationen sind antiisraelische Slogans zu hören. Ist das Ausdruck einer Hilflosigkeit angesichts eines kaum zu durchdringenden Konflikts oder ist es Antisemitismus?
Schipper: Ich denke, es ist beides. Nach dem 7. Oktober haben wir in der Schweiz sehr klar bemerkt, dass der Antisemitismus genetisch ist. Es ist unglaublich, wie schnell er wieder geweckt werden kann. Ich stelle es mir wie eine Schicht vor, die von Generation zu Generation weitervererbt wird. Es braucht nur einen Auslöser und dann ist er wieder voll da.
Die Menschen verstehen den Nahostkonflikt nicht.
Aber ich glaube, eine viel grössere Rolle bei den Protesten spielt, dass die Leute den Nahostkonflikt einfach nicht verstehen. Und wie sollten sie auch? Der ist so unglaublich kompliziert und hat eine so lange, verworrene Geschichte.
Und man sucht nach einfachen Antworten?
Schipper: Genau. Es wird zu einer Opfer-Täter-Frage und man vereinfacht die Situation, indem man sie schwarz-weiss macht. Das ist vielleicht der wesentlichste Faktor bei den Protesten. Die engagierten Studierenden, zu denen ich früher ja auch gehörte, sehen, dass Kinder und Frauen in Gaza getötet werden und richten ihre Empörung gegen Israel, dessen Armee dies tut.
Gleichzeitig spielt die Gewalt der Hamas am 7. Oktober, die sich ganz besonders gegen Frauen gerichtet hat, in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Auch die aufwendige Dokumentation «Screams before Silence», in der überlebende Frauen zu Wort kommen, wird kaum wahrgenommen…
Schipper: Ich vermute, dass hier wirklich Antisemitismus greift. Kurz nach dem 7. Oktober stellte eine deutsche Journalistin fest, dass, «wenn wir hinschauen, was die Hamas mit den Frauen gemacht haben, dann müssen wir sagen: Das ist ein Massaker». Ich verstehe auch nicht, warum das nicht mehr hervorgehoben wird. Ich vermute einfach, dass es ein Abwägen von Wertigkeiten ist.
Sind Sie kritisiert worden, dass sie das Statement unterschrieben haben, das auch Israels Politik kritisiert?
Schipper: Es gibt eine vornehme Zurückhaltung bei einigen öffentlichen jüdischen Persönlichkeiten. Das ist nicht wirklich Kritik, aber im Privaten haben mir einige anvertraut, warum sie das Statement nicht unterzeichnen werden. Hier spielt auch das politische Links-Rechts-Schema eine Rolle. Es sind eher politisch linke Persönlichkeiten, die unterschreiben haben und die bereits früher die israelische Politik kritisiert haben.
Viele Schweizer Juden und Jüdinnen sind von dem latent vorhandenen Antisemitismus überrascht worden. Sie auch?
Schipper: Nein, es hat mich nicht überrascht. Ich denke, es hat viel damit zu tun, dass wir die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg nie richtig angeschaut haben. Noch in meiner Schulzeit wurde nicht darüber gesprochen. Stattdessen hat man lange diesen Mythos der neutralen Schweiz aufrechterhalten. Noch heute erlebe ich manchmal in Gesprächen über das Thema, dass mein Gegenüber sagt: «Das habe ich nicht gewusst.» Und darum glaube ich schon, dass da noch ganz viel schläft.
Ich möchte wieder gerne nach Israel fahren.
Was wünschen Sie sich ganz persönlich für die Zukunft in Nahost?
Schipper: Frieden, natürlich. Dass die Geiseln zurückkommen und die Kriegshandlungen aufhören. Dass die Ultraorthodoxen nicht so viel zu sagen haben und dass Netanjahu ins Gefängnis geht. Ich war oft in Israel und habe das Land auch mit meinen Kindern immer wieder neu entdeckt. Ich bin so gerne nach Israel gefahren. Ich möchte wieder gerne nach Israel fahren können.
Und was wünschen Sie sich für die Schweiz?
Schipper: Da wünsche ich mir, dass ein Diskurs beginnt über genau diesen unterschwelligen Antisemitismus. Und ich glaube, man könnte gleich auch noch den Antiislamismus dazunehmen. Wir brauchen einen Diskurs, der wirklich in die Tiefe, an unsere Werte und dem Bild der heilen, heilen Schweiz geht. Vielleicht brauchen wir hier in Bern neben dem Haus der Religionen auch noch eine Schule der Religionen.
*Dalia Schipper ist Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern. Sie ist promovierte Bildungswissenschaftlerin, Unternehmerin und Dozentin an der Berner Fachhochschule
Statement des Jüdischen Forums Schweiz Gescher im Wortlaut
Wir sind jüdische Menschen in der Schweiz, die sich liberalen, demokratischen und humanistischen Werten verpflichtet fühlen und sich grosse Sorgen machen um die Situation im Nahen Osten.
Viele von uns haben Verwandte und Freunde in Israel oder haben selbst dort gelebt. Wir sind von der Situation seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und vom Schicksal der israelischen Geiseln schwer betroffen. Gleichzeitig sind wir auch tief besorgt über das unermessliche Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, die Intensivierung der Besatzung im Westjordanland und die zunehmende Abkehr von demokratischen Grundwerten in Israel.
Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind grundlegende Bausteine unserer liberalen und demokratischen Gesellschaften. Das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte entwickelten sich zu verbindlichen Leitlinien der internationalen Gemeinschaft auch als Antwort auf die Gräueltaten der Shoah und des Zweiten Weltkrieges. Es sind diese humanistisch-liberalen Werte, die wir vermehrt ins Zentrum der Debatten rund um den Nahostkonflikt und um den Antisemitismus in der Schweiz stellen möchten.
In dieser schwierigen Zeit sind Räume für Dialog und offenen, pluralistischen Austausch besonders wichtig. Gerade angesichts des zunehmend polarisierten Diskurses braucht es mehr Austausch, auch unter Menschen, welche unterschiedliche Perspektiven haben. Zudem wünschen wir uns, dass die Schweiz die Kräfte in der Region stärkt, welche für demokratische Werte einstehen und auf eine gemeinsame Zukunft hinarbeiten, in der alle Israelis und Palästinenser:innen in Frieden, Würde und Sicherheit leben können.
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