Die europäische Kultur als Herausforderung. Foto: Maria Anojh Arulananthamnes

Das Aufeinandertreffen zweier Kulturen

03.10.2018

Interview über Integration und Konflikt. Julia Joseph befragte Mädchen aus Indien und Eritrea

Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander leben, kann es Konflikte geben. Julia Joseph befragte Mädchen aus Indien und Eritrea zu ihren Schweizer Erfahrungen

Das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen ist für ein Kind oft nicht einfach. Schon nur beim Zusammenleben mit den Eltern und beim Ausführen der freizeitlichen Aktivitäten mit anderen Kindern kann es vor allem zu Hause zu ernsten Konflikten kommen. Die Eltern haben oft andere Wertvorstellungen und Erziehungsmethoden als die Kultur, in die das Kind hineinwächst wie zum Beispiel die Schweiz. In Indien hat es viele unterschiedliche Verhaltensregeln, welche stark von denen der europäischen Kultur abweichen. Die Gesellschaft toleriert vieles nicht und die Ehre der Familie ist eines der wichtigsten Dinge im Leben ei Inders oder einer Inderin. Um herauszufinden, ob dieser Konflikt bei Inderinnen in der Schweiz auch vorkommt, wurde eine Meinungsumfrage durchgeführt. Die Zielgruppe der Befragung waren indische Mädchen, welche in der Schweiz aufgewachsen sind und Eltern haben, welche in Indien aufgewachsen sind. Das Alter der Befragten lag zwischen 14 und 18 Jahren.

Es wurden vier Mädchen befragt. Die Antworten der Befragung wurden danach miteinander verglichen und zusammengefasst. Folgende Äusserungen kamen dabei heraus.

  • Männliche Familienmitglieder haben mehr Rechte. Dieser Zustand wird vor allem vom Vater, Bruder oder Cousin gezeigt. Häufig wird den weiblichen Familienmitgliedern das typische Rollenbild der Frau zugeordnet. Das männliche Familienmitglied hat häufig das Sagen

  • Die Freiheiten, die den Mädchen verweigert werden, sind das Ausgehen am Abend und dass sie einen Freund im jungen Alter haben dürfen. Diese Sachen sind in der europä- ischen Kultur normal geworden.

  • Vor allem die Mädchen haben Ansprechpersonen. Meist sind es die Schwestern oder Kolleginnen aus der gleichen Kultur, welche das gleiche Schicksal mit ihnen teilen.

  • Die meisten Mädchen haben sich angepasst, aber nicht alle sind ganz zufrieden damit. Sie haben sich früher dagegen gewehrt, so behandelt zu werden. Je älter die Mädchen, desto verständnisvoller sind sie geworden und können die Entscheidungen ihrer Eltern nachvollziehen. Weil sie realisiert haben, dass ihre Eltern nur das Beste für sie wollen.

Diese Antworten haben gezeigt, dass es vor allem die Mädchen sind, die in der Familie benachteiligt werden. Ob sie nun 14 oder 18 sind, die Befragten leben nach den Regeln der Eltern und dürfen ihre eigentliche Meinung nicht geltend machen. Die meisten Brüder der Befragten dürfen zum einen gehen und kommen, wann sie wollen, und zum anderen auch ihren Träumen und Bedürfnissen nachgehen.

Für ein Kind welches die meiste Zeit mit europäischen Freunden verbringt, wird es schwierig, diese Kultur zu ignorieren. Die meisten Kinder nehmen die europäische Kultur an und haben es oft schwer, mit den Eltern unter einem Dach zu leben. Die konservative Kultur in Indien ist in den Köpfen der Eltern so stark verankert, dass sie für Kompromisse nicht bereit wären. Ihnen ist es oft nicht bewusst, unter welchem Druck das Kind dann leben muss.

Nicht erst mit 18 Jahren

Eine glückliche positive Ausstrahlung hat die 17-Jährige auf jeden Fall. Debi M.* kommt gerade nach einem Telefonat mit ihrer Grossmutter, die in Eritrea wohnt. Es macht sie glücklich, wenn sie die Gelegenheit hat, mit ihr zu telefonieren. Seit 2007 lebt sie in der Schweiz. Vor dieser Zeit lebte sie in Eritrea bei ihrer Grossmutter. Von ihrer Heimat nimmt sie eine Menge Angewohnheiten, Kultur und Erinnerungen mit. Das Seilspringen barfuss, das schnelle Anfreunden mit fremden Personen und das Spielen im Dreck mit ihren engsten Freunden vermisse sie am meisten. Wenn sie nicht in der Schule ist, trifft man sie meistens in der Kirche. Die Kirche sei ihr zweites Zuhause. Dort hat sie Freunde, mit denen sie viel Zeit verbringt.

Mit 7 Jahren schon wie eine Mutter

Viele Unterschiede zwischen der Jugend in der Schweiz und in Eritrea gebe es nicht. Die einzigen Unterschiede sehe sie in den Finanzen und im Verhalten der Jugendlichen. Laut ihr habe die schweizerische Jugend materieller Hinsicht fast alles, was man sich in einem ärmeren Land nur wünschen kann. Die Jugendlichen in Eritrea würden viel früher lernen, selbstständig zu sein. Als sie 7-jährig war, hat sie viele Aufgaben einer Mutter übernommen: «Erwachsen werde ich nicht mit 18, denn das bin ich schon lange.» Wenn sie sich mit ihrem 7-jährigen Bruder vergleicht, der in der Schweiz aufgewachsen ist, unterscheiden sich ihre Aufgabengebiete enorm. Sie identifiziert sich einerseits mit den Jugendlichen in der Schweiz, weil sie seit Langem in der Schweiz lebt und andererseits mit den Jugendlichen ihrer Nationalität, weil sie auch vieles von Eritrea mitgenommen hat.

Bestrafungen sind Zeichen der Liebe

Die Erziehungsmethoden in Eritrea sind anders. Dort werden die Kinder strenger aufgezogen und oftmals geschlagen. Diese Erziehungsmethode wird in Eritrea jedoch nicht als schlimm gesehen. Sie verurteilt die eritre- ischen Eltern nicht. «Es ist wichtig, den Kindern den richtigen Weg zu zeigen und Verantwortung zu übergeben, auch wenn bei Widerstand Bestrafungen erforderlich sind. Das hört sich streng an, aber wir lieben und respektieren die Kinder trotzdem.»

Die Jugendlichen in der Schweiz reden mit ihren Eltern anders als sie. Sie findet, dass sie mit mehr Respekt redet. Sie versucht immer dieselbe Meinung wie ihre Mutter zu haben, um Konflikte zu vermeiden. Sie erinnert sich an ein Ereignis und erzählt mir: «Bei einem verpassten Anruf meiner Mutter werde ich zu Usain Bolt und renne nach Hause.»

«As long as you can handle it, it’s okay»

Zum Thema Party und Ausgang kann sie nicht viel erzählen, da sie in diesem Bereich noch keine Erfahrungen gemacht hat. Sie schaut mich mit einem traurigen Blick an und meint, dass ihre Mutter kritisch gegenüber dem Ausgang steht. Sie lacht eine Weile und behauptet: «Meine Mutter ist nicht nur eine Eritreerin, sondern auch eine Gläubige. Das heisst, wenn sie keine gute Begründung gegen den Ausgang findet, predigt sie aus der Bibel.» Der Konsum von leichten, aber auch stärkeren Drogen wie Alkohol, Tabak, Gras und Koks ist für die Jugend heute selbstverständlich. Sie persönlich hält nicht viel von diesem Spass. Der Grund für diese Abneigung liege wahrscheinlich an der Erziehung. Sie verurteilt diese Jugendlichen jedoch nicht. Die ist der Meinung «As long as you can handle it, it’s okay.»

* Name der Redaktion bekannt 

Autorin: Julia Joseph Fotos: Maria Anojh Arulananthamnes

 

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