«Heute mag ich mich. Nachdem ich neunundvierzig Jahre gegen mich gekämpft habe.» Pierre Stutz. / Foto: Stefan Weigand

«Das verpasste Leben tut weh»

11.10.2023

Pierre Stutz schreibt in seiner Autobiographie vom Glück seines Lebens

Der Ex-Priester Pierre Stutz erzählt in seinen Büchern viel von sich selber – und jetzt sein ganzes Leben. In seiner eben publizierten Autobiografie konzentriert sich der Bestsellerautor auf das, was der Titel verheisst: Wie ich der wurde, den ich mag.

Interview: Marcel Friedli-Schwarz

«pfarrblatt»: Pierre Stutz, wie oft haben Sie beim Schreiben Ihrer Autobiografie gelächelt?

Pierre Stutz: Wenn es schreibt und schreibt, kommt das Lächeln. Dann sind alle Selbstzweifel verflogen, ob das Geschriebene interessiert und ob es verständlich und nachvollziehbar ist.

Wie viele Tränen sind geflossen?

Viele. Etliche Male hat mich das Leben in die Enge geführt. Dadurch entstand letztlich neue Kraft. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Menschen zerbrechen an Schwierigem und Schwerem. Mit meinem Beispiel will ich dazu ermutigen, dass es möglich ist, seinen Weg zu finden – zum eigenen Original.

Ist es eine Art Therapie für Sie, Ihre Autobiografie zu schreiben?

Ich bin dankbar für die professionelle Begleitung und Unterstützung, die ich eine Zeitlang erhalten habe. Das Schreiben hat für mich eine zusätzliche Dimension: Schreibe ich, kann ich mich und die Welt besser verstehen. Schreibe ich nicht, werde ich depressiv. Schreiben schafft Distanz und schenkt eine neue Perspektive. Das ist auch bei diesem Buch über mein Leben passiert.

Verbirgt sich hinter diesem Unterfangen eine Portion Narzissmus?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt: Weshalb noch eine Biografie mehr – wo der Markt damit geschwemmt wird? Auch wenn das Buch von meinem Leben handelt und ich darin die Hauptrolle spiele, geht es nicht allein um mich. Sondern um all die Menschen, die sich dieselben Fragen stellen und Ähnliches erleben. Zudem: Die Mystikerinnen und Filmemacher, die ich zitiere, stellen meine Erfahrungen in einen erweiterten Zusammenhang.

Sie sprechen die Filme an, die in Ihrem Leben eine grosse Rolle spielen.

Wer einen Film macht, Songs komponiert, ein Buch schreibt, drückt sich aus. Dabei spielt das Ich eine Rolle, in einem künstlerischen Sinn – dass man sich ausdrückt. Berührt ein Werk andere, ist das wunderbar. Ich ermuntere alle Menschen, das zu machen, wozu es sie drängt, wonach sie sich sehnen.

In Ihren Büchern beschreiben Sie Ihr Burnout und den sexuellen Missbrauch (ausserhalb von Kirche und Familie). Wie viel Neues erfährt man jetzt?

Viele Episoden sind treuen Leser:innen bekannt. Sie werden mit diesem Buch in neuem Guss präsentiert. Mit der Frage: Wo ist Versöhnung passiert? Wie habe ich gelernt, liebevoller mit mir umzugehen, mich auch um mich zu kümmern? Wo und wie gelingt es mir, mich von tief eingebrannten Mustern zu befreien?

Mögen Sie sich heute?

Ja, heute mag ich mich. Das ist das Glück meines Lebens. Nachdem ich neunundvierzig Jahre gegen mich gekämpft habe. Unglaublich, dass ich das so lange gemacht habe. Wegen der Angst, abgelehnt zu werden. Sie trieb mich in die Enge. Das verpasste Leben tut weh. Heute erlaube ich der Angst, nur eine der Stimmen im Ich-Team zu sein. Auch wenn sie mich hie und da noch terrorisiert, kann ich diese Erkenntnis heute meist relativ gut umsetzen.

Sie führen Tagebuch – haben Sie mit diesen die Fakten gecheckt?

Ich habe alle vierzig Tagebücher auf dem Nachttisch gestapelt und fragte mich: Wie soll ich das in ein einziges Buch bringen? Nein, ich habe sie nicht alle noch einmal gelesen. Sondern punktuell hineingeschaut.

Eine Biografie lebt vom Etikett: echt und wahr. Mitunter kann eine Autobiografie indes das Fiktionalste sein, das es gibt – Geschichten über das eigene Leben.

Vieles habe ich weggelassen. Ich habe versucht zu verdichten. Habe mir überlegt, was für den roten Faden relevant ist: wie ich mich mögen kann.

 

Aus der Autobiografie von Pierre Stutz

«Aufgrund meines tief verdrängten eigenen Leidens spüre ich eine grosse Sehnsucht nach einem heilenden Raum, den ich als Messdiener in der katholischen Liturgie finde. Die sinnliche Kraft der Rituale tut mir gut, und bei Beerdigungen, denen ich als Messdiener beiwohne, kann ich meine eigene versteinerte Trauer im mitfühlend aufgewühlten Dasein leben.»

«Schon als Messdiener sind für mich Kirchenräume heilende Orte, die dem Leben einen besonderen Geschmack schenken. Deshalb mag ich so gerne in einer Feier das Weihrauchfass schwingen, auch mit der Gefahr, fast ohnmächtig zu werden, weil wir vor dem Empfang der heiligen Kommunion (einer Hostie) nichts essen und trinken dürfen! Weihrauch lässt mich mit allen Sinnen erfahren, dass das Leben viel mehr ist als Gewinnoptimierung. Weihrauch lockt mich in eine Weite, um mein kleines Leben als etwas ganz Grosses zu sehen, als Wunder, als Geschenk, als Geheimnis.»

«Bei der Beichte entwickle ich meine Tricks, um dem kleinlichen Sündenkatalog auszuweichen, der entlang der zehn Gebote aufgelistet wird. Beim sechsten Gebot, in dem es um unkeusche Gedanken geht, sage ich jedes Mal auf die Frage, ob ich etwas zu beichten habe: ‹Nichts!›, weil ich danach clever beim achten Gebot Du sollst nicht lügen diese Antwort sofort als Lüge beichte. Genial!? Ich mag es ganz und gar nicht, zur Beichte zu gehen, obwohl es schon ein einmaliges Gefühl ist, sich danach total rein zu fühlen.»

Religiös verstehe ich längst nicht mehr als ein Glaubenssystem einer vereinnahmenden Gemeinschaft, das ich auswendig lernen muss, sondern, von seinem Wortursprung re-liguere her, als eine Rückverbindung, ein Aufgehobensein in einem grösseren Ganzen, im Sinne des französischen Naturwissenschaftlers und Priesters Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955): ‹Es macht den Wert und das Glück des Menschen aus, in etwas Grösserem aufzugehen, als er selbst ist.›»

Aus: Pierre Stutz. Wie ich der wurde, den ich mag. Verlag: bene! 192 Seiten, ISBN 978-3-96340-245-6

Am Sonntag, 29. Oktober, präsentiert Pierre Stutz sein neues Buch ab 14.00 im Kirchensaal Maihof in Luzern.

Meditieren und engagieren

Mit zwanzig Jahren tritt Pierre Stutz in Neuenburg in den Orden der Christlichen Schulbrüder ein. Nach dem Theologiestudium arbeitet er als Jugendseelsorger im Fricktal und in Zürich; zudem doziert er an der Theologischen Fakultät in Luzern. Später lebt der gebürtige Aargauer in Neuenburg in einem offenen Kloster. Während zwölf Jahren ist er Redaktor der spirituellen Fotozeitschrift ferment.

Im Sommer 2002 legt Pierre Stutz sein Amt als Priester nieder. Ein Jahr später kommt er mit seinem Lebensgefährten Harald Wess zusammen, mit dem er nun verheiratet in Osnabrück wohnt. In seinen rund fünfzig Büchern plädiert Pierre Stutz für Spiritualität im Alltag und für das Verbinden von Meditieren und Engagieren.

Vor drei Jahren hat Pierre Stutz den Herbert-Haag-Preis erhalten. Diese Stiftung zeichnet Menschen aus, die im christlichen Kontext durch mutiges Handeln auffallen. Im November feiert Pierre Stutz seinen siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass ist soeben seine Autobiografie erschienen: Wie ich der wurde, den ich mag.