Der Machtmissbrauch wird weiterhin nicht als Kernproblem erkannt. Stefan Loppacher, Präventionsbeauftragter des Bistums Chur. Foto: zVg
Das neue kirchliche Strafrecht - nur ein Anfang
Ein Reförmchen
Am 1. Juni hat der Vatikan ein erneuertes Strafgesetzbuch erlassen. Weshalb braucht die Kirche ein eigenes Strafrecht? Kirchenrechtler Stefan Loppacher erklärt die Hintergründe und sagt, warum diese Reform noch lange nicht weit genug geht.
Von Stefan Loppacher, Präventionsbeauftragter des Bistums Chur. Quelle: www.zhkath.ch
Der säkulare Staat interessiert sich nicht für Verstösse gegen katholische Vorschriften bezüglich des Glaubens und der Sakramente – genau diese machen hingegen den Grossteil der kirchlichen Straftatbestände aus. Für den Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte ist eine kircheneigene Strafkompetenz schon weniger einsichtig, handelt es sich dabei doch um Straftaten, bei denen in erster Linie Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln.
- Nehmen wir an, ein Priester wird wegen Konsums kinderpornographischer Inhalte oder wegen versuchter Vergewaltigung rechtskräftig verurteilt. Soll er nach Bezahlen der Busse einfach weiter im kirchlichen Dienst bleiben oder nach der Haft weiter als Priester wirken dürfen?
Dieses Problem lösen staatliche Gerichtsinstanzen allein nicht. Selbst ein per Gerichtsurteil auferlegtes Tätigkeitsverbot betrifft ausschliesslich die Arbeit mit Minderjährigen. Vorbehaltlose Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden ist von der Kirche ebenso gefordert, wie die konsequente Anwendung der eigenen Massnahmen und Instrumente zum Schutze aller.
Kirchliches Strafrecht überfordert
Seit den 80er Jahren erlebt das kircheneigene Strafrecht eine Renaissance. Mit dem Bekanntwerden erster Fälle von sexueller Ausbeutung durch Kleriker, standen kirchliche Gerichte vor einer enormen Herausforderung. Schnell machten sich generelle Überforderung und akuter Fachkräftemangel bemerkbar.
Die grosse Kirchenrechtsreform im Zuge des II. Vatikanums hat das Strafrecht, salopp gesagt, nur aus nostalgischen Gründen beibehalten. Die Strafbestimmungen und die Verfahrensregeln waren schlichtweg nicht für den Ernstfall konzipiert. Rechtsunsicherheit und Inkompetenz gaben dem mangelhaften System den Rest.
- Selbst bei den wenigen Verfahren, die bis zur Jahrtausendwende überhaupt geführt wurden, endeten nur äusserst wenige mit einer Verurteilung des Täters und der Verhängung einer adäquaten Strafe.
Zögerliche Reformen
In den letzten zwei Jahrzehnten folgten zahlreiche Anpassungen und Reformen, welche notwendige Verbesserungen brachten, aber auch neue Probleme schufen. Im Fokus standen dabei stets Sexualstraftaten gegen Minderjährige. Die aktuelle Überarbeitung, welche vor 14 Jahren begonnen und deren Veröffentlichung mehrfach hinausgeschoben wurde, versucht hier nachzubessern, tut dies aber nur sehr zögerlich.
Abgesehen von zahlreichen juristischen Feinheiten, welche ich den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle erspare, bringt das mit der Apostolischen Konstitution Pascite Grecem Dei veröffentlichte neue Gesetz einige wichtige Veränderungen.
- Neu können für praktisch alle Delikte auch Geldstrafen verhängt werden (can. 1336 § 2, 2° und § 4, 5°).
- Die Bischofskonferenzen werden beauftragt, zu diesem Zweck länderspezifische Bussgeldordnungen festzulegen, welche ab dem 8. Dezember 2021 zur Anwendung kommen können.
- Das ist ein wichtiger Schritt, da die klassischen kirchlichen Strafen, wie verordnetes Fasten, verpflichtende Wallfahrten etc. heutzutage kaum noch jemanden beeindrucken. Dagegen dürften empfindliche monetäre Sanktionen wohl auch bei Gottes Bodenpersonal ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlen.
Lücken bei Sexualstraftaten geschlossen
Weitere bedeutende Änderungen betreffen den Bereich der Sexualdelikte. Abgesehen von schwerer Vergewaltigung gab es bisher keine gesetzliche Grundlage, um Kleriker wegen Sexualstraftaten gegen erwachsene Personen auf irgendeine Weise, geschweige denn mit Entlassung aus dem Klerikerstand, zu bestrafen. Diese Lücke wird nun weitgehend geschlossen.
- Ein Kleriker, der mit Gewalt, durch Drohungen oder Missbrauch seiner Autorität ein Sexualdelikt begeht, kann nun mit Strafen wie Amtsentzug, Geldbussen sowie endgültiger Entlassung aus dem Klerikerstand – was einem lebenslangen Berufsverbot gleichkommt – betraft werden (can. 1395 § 3).
- Gleichzeitig ist aber für solche Fälle die Verjährungsfrist mit neu 7 Jahren im Vergleich zum schweizerischen Strafrecht immer noch viel zu kurz bemessen und man hat es versäumt, diesen neuen Straftatbestand unter den Titel VI „Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit der Menschen“ zu stellen, wo er systematisch hingehört und unter dem neu die Straftaten gegen Minderjährige geführt werden.
- Sind bisher ausschliesslich Sexualdelikte von Diakonen, Priestern und Bischöfen kirchenrechtlich sanktioniert worden, so werden ihnen nun Ordensleute und kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die «in der Kirche eine Würde bekleiden oder ein Amt oder eine Funktion ausüben» gleichgestellt (can. 1398 § 2).
Spiritueller Machtmissbrauch als Kernproblem verkannt
Gewiss sind das längst überfällige Schritte in die richtige Richtung. Aufwand – 14 Jahre Arbeit inkl. globaler Vernehmlassung – und Ertrag – eine teilweise bereits schon wieder veraltete und nur zaghaft durchgeführte Rechtsreform (vgl. die aktuellen Diskussionen rund um die Überarbeitung des schweizerischen Sexualstrafrechts) – stehen jedoch in keinem Verhältnis.
- Der Machtmissbrauch in seelsorgerlichen Abhängigkeitsverhältnissen, gerade auch auf geistlicher Ebene (Stichwort: spiritueller Missbrauch) scheint weiterhin nicht als Kernproblem erkannt zu werden.
Bitteres Fazit mit Triggerwarnung für Betroffene
Die euphorische und blumige Sprache der Apostolischen Konstitution vermittelt einmal mehr den Eindruck, dass man an der Spitze der Hierarchie, selbst bei diesem Thema, nicht gewillt ist, von der Überhöhung der eigenen Institution Abstand zu nehmen und tradierte Grundhaltungen kritisch zu hinterfragen. Für Betroffene muss vor dem Lesen dieses Textes eine eigentliche Triggerwarnung ausgesprochen werden.
- Das wiederholte Gerede von Liebe und Barmherzigkeit, nota bene in einem Text, der ein neues verschärftes Strafgesetz einführen will, ist für Betroffene, denen unsägliches Leid angetan wurde, nicht zu ertragen.
Ich werden den Eindruck nicht los, dass wir es hier mit einem weiteren Beispiel für typisch kirchliche Unentschlossenheit zu tun haben. Der Umgang mit der ganzen Thematik ist leider noch viel zu sehr von zauderhaftem Vorgehen geprägt. Echte Bereitschaft, aus der eigenen Vergangenheit zu lernen und Betroffene endlich ernst zu nehmen, sieht anders aus.