Xavier Dayer. Dozent für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule der Künste Bern. Foto: Georges Scherrer
«Das Umfeld macht das Sakrale der Musik aus»
Die Komposition «sakraler» Musik. Gespräch mit Xavier Dayer von der Berner Hochschule der Künste
Xavier Dayer komponierte bisher gegen sechzig Werke, darunter Opern, Kammermusik und Chorwerke. Nun verfasst er erstmals eine «sakrales» Stück. Für ihn ist dies nicht wirklich eine Herausforderung, wie er im Gespräch erklärt. Dies ist ein Beitrag zur Sommerserie 2019 «Heilige Musik» von kath.ch
Von Georges Scherrer
Die Oper Zürich führte vor zwei Jahren Dayers Werk «Der Traum von Dir» auf. Diese Oper komponierte der geborene Genfer nach der Novelle «Brief einer Unbekannten» von Stefan Zweig. In Frankreich wurde Dayers Oper zum Thema Mond und Regen inszeniert.
Im kommenden Jahr gelangt nun erstmals ein «sakrales» Stück des Komponisten zur Aufführung. Dabei handelt es sich um eine Bestellung des «Internationalen Festivals Geistlicher Musik» in Freiburg.
Dayer ist in Genf geboren. Heute lebt er in Bern. An der dortigen Hochschule der Künste ist er Dozent für Komposition und Musiktheorie. Die Freiburger Bestellung ehre ihn, sagt der Komponist.
Die Bedeutung religiöser Texte
Gedanken über die Herausforderung, ein sakrales Werk zu schreiben, hat er sich schon gemacht. Seine Antwort überrascht: «Es ist vor allem ein Bezug zur Geschichte. Die religiösen Texte hatten vor allem in der Vergangenheit eine sehr grosse Bedeutung.» Bis in 15. Jahrhundert stand der grösste Teil der Musik in Bezug zur Religion.
«Texte wie das ‹Kyrie› oder ‹Laudemus› haben einen sehr starken Bezug zu dieser Vergangenheit, welche die ganze europäische Kultur prägte.» Er sei von dieser Tradition geprägt. Bei der Komposition eines sakralen Stücks «tauche ich in diese Vergangenheit ein».
Sich des Vergangenen bewusst werden
Er liebe die alte Musik, sie inspiriere ihn, so Dayer. Und er betont: «Ich arbeite mit der Geschichte.» Die heutige Zeit trenne sich jedoch zu oft von allem, was macht, «dass das Heute existiert». Er wolle nicht aus dem Alten etwas «Neues» schaffen, sondern sich der Vergangenheit bewusst werden.
«Es ist die Art und Weise,
wie Musik verwendet wird,
die sie heilig macht.»
In seiner Kompositionsarbeit geht Xavier Dayer davon aus, dass es keine eigentliche «sakrale Musik gibt». Seiner Ansicht nach gab es weder eine Zeit, in welcher Musik «heilig» war, noch eine Zeit, in welcher Musik «weltlich» verstanden wurde. «Ich denke, es ist die Art und Weise, wie sie verwendet wird, die sie heilig macht.»
Heiligmässige Texte
Musik lasse sich nicht in die Kategorien «heilig» und «profan» zwängen. Vielmehr mache das Umfeld, in welcher sie gespielt werde, die Kategorisierung der Musik aus. Das Einzige in der Musik, das heiligmässig sein könne, sind nach Ansicht des Komponisten die Texte. Diese seien sakral, «weil sie in einer postmodernen Zeit als heilig eingestuft wurden».
Archaische Zivilisationen schufen heilige Texte. Im 15. und 16. Jahrhundert sei jedoch auch musikgeschichtlich etwas Ausserordentliches geschehen. Damals setzte sich in der Gesellschaft das Wissen durch, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Neue Kontinente wurden entdeckt. Die Reformation nahm mit Martin Luther ihren Anfang.
Im 16. Jahrhundert kam die Wende
Und auch die Musik wurde durchgeschüttelt. Sie begann sich von ihrer religiösen Bindung zu befreien. Die Oper entwickelte sich zum «Tempel der bürgerlichen Aufklärung». Die Musik erhielt ausserhalb der kirchlichen Einheit einen neuen Platz.
Für das Freiburger Festival vertont Xavier Dayer den Psalm 150. Er orientiert sich dabei an einem Werk des englischen Komponisten William Byrd mit dem Titel «Laudibus in sanctis». Xavier Dayer sieht nun seine Aufgabe darin, «mit den Resten des Heiligen in einer profanen Welt» in Verbindung zu treten. Für diese Arbeit zieht er sich jedoch nicht an einen heiligen Ort zurück. Er wird auch seine Kompositionstechnik nicht ändern.
Auf Ruinen bauen
Im Zentrum der Kompositionskunst des Wahlberners steht der Begriff «Dialog». Dieser kam jedoch bei der Vertonung der «sieben letzten Worte Christi» zu kurz. Dayers Stück, das sich an Joseph Haydns Vertonung der biblischen Worte Jesu orientierte, wurde am 17. Mai 2019 in Genf uraufgeführt. Er komponierte es für ein Instrumental-Ensemble.
Dem Komponisten ist der Dialog mit der Zeit wichtig
«Mich interessierte, wie Haydns Stück, das im 18. Jahrhundert an einem Karfreitag in Cadiz erstmals aufgeführt wurde, in der heutigen, entsakralisierten Zeit wirkt», erklärt Dayer. Für sich hat der Komponist nun herausgefunden, dass er auf «Ruinen» aufbaut und zwar auf den «Resten von dem, was wir einst waren».
«Ich habe den Eindruck, dass wir die Welt, die wir lieben, besser verstehen, wenn wir uns mit jenem Teil, aus welchen wir gekommen sind, in Verbindung setzen», ergänzt Dayer. Darum ist ihm als Komponist der «Dialog» mit jener Zeit wichtig, aber auch der Dialog mit dem heutigen Musikpublikum.
Kein persönliches Bekenntnis
In diesem Bereich werde das «Heilige» interessant. Dayers neue Komposition soll eine Schnittstelle zum ehemaligen, sakralen Stück von William Bird bilden. Der Komponist weist darauf hin, dass in Birds Kantate sowohl christliche wie jüdische Elemente eingeflossen sind. «Diese Verbindungen werden meine Arbeit beeinflussen.» Die Vertonung bleibe aber ein technischer Akt. Sie stelle kein «persönliches Bekenntnis dar. In diesem Bereich bin ich sehr zurückhaltend.»
Dayer orientiert sich vielmehr in seiner Kompositionskunst am Begriff Anthropotechnik. Das Wort stammt von deutschem Philosophen Peter Sloterdijk. Dieser legte den Begriff in seinem Buch «Du musst dein Leben ändern» zugrunde. Das Wort beschreibt eine Einheit von Mensch, Maschine und Technik.
Das Gemeinschaftserlebnis
«Für mich stellen Spiritualität und Religion eine Technik dar», meint darum Dayer und ergänzt: «die verschiedenen religiösen Praktiken, welche der Mensch geschaffen hat, um mit der Frage des Todes fertig zu werden, sind technischen Ursprungs.»
«Für mich stellen Spiritualität und Religion eine Technik dar.»
Der Lobpreis ist aus Sicht des Komponisten eine wunderschöne Anthropotechnik. Technik beinhalte auch Ritual. Die Musik trage das Ritual mit und «gestattet es uns, uns mit einem Mysterium in Verbindung zu setzen». Die Liturgie wurde in gemeinschaftlicher Arbeit geschaffen – «und das packt mich».
Ritual bringt sakrale Dimension
Xavier Dayers Komposition wird am Freiburger «Festival International de Musique Sacrée» in der Kirche St. Michel uraufgeführt – «aber nicht im Rahmen einer Liturgie», präzisiert der Komponist. «Es wird ein Konzert sein, obwohl das Stück auf einem sakralen Werk aufbaut.»
Dayer bezeichnet seine Komposition als ein Konzert-Stück. Er erklärt: «Viele Werke, die an Festivals sakraler Musik aufgeführt werden, bleiben Konzertmusik, weil sie nicht im Rahmen einer Liturgie gespielt werden.» Wenn hingegen eine «weltliche Musik» in ein religiöses Ritual eingebunden werde, dann nehme diese Musik eine sakrale Dimension an.
Christliche Anthropotechnik
Xavier Dayer stammt aus einer Walliser Familie, die sich in Genf niedergelassen hat. Seine Frau wurde in einer calvinistischen Familie gross. Für sich sieht er eine «ökumenische Wurzel im Bereich des Christlichen». Diese Erdung sei für ihn eine Quelle grossen Reichtums.
«Ich nehme die Vielfalt als eine riesige Chance wahr», ergänzt der Wahl-Berner. Und zu seiner Religionsauffassung meint er: «Statt eines Glaubensbekenntnisses, etwa mit den Worten ‹Ich bin gläubig›, ziehe ich es vor zu sagen, dass die christliche Anthropotechnik für mich sehr wichtig ist.»