Ramadan Shabani, Imam im Haus der Religionen in Bern, an einem Friedensgebet für den Nahen Osten. Foto: Pia Neuenschwander
«Dass Imame in einer Landessprache predigen sollten, ist absurd»
Neue Studie zu islamspezifischen Konflikten
Über Moscheebauten, das Kopftuch und Imame wird in der Schweiz debattiert und gestritten. Dabei kommen wichtige Fragen aufs Tapet und Muslim:innen werden sichtbar, sagt Hansjörg Schmid, Leiter einer aktuellen Studie über islamspezifische Konflikte.
Regula Pfeifer
Eine Frage zur Aktualität: Sind durch den muslimischen Messerstecher in Zürich oder durch den Gaza-Krieg neue Konflikte rund um den Islam entstanden?
Hansjörg Schmid: Die Konflikte sind nicht neu. Aber sie werden durch Ereignisse im Ausland verstärkt. Das fing mit dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in den USA an, worauf weitere Attentate in anderen Ländern folgten. Daraufhin wurde mechanisch die Frage gestellt: Was ist denn mit den Muslim:innen im Inland?
Und was die Messerattacke in Zürich betrifft: Es besteht die Gefahr, dass eine solche Einzeltat verallgemeinert wird und ganze gesellschaftliche Gruppen unter Generalverdacht geraten.
Passiert das im Moment?
Teilweise, ja. Dem wirken aber andere Tendenzen entgegen, etwa Solidarisierungsbekundungen wie gemeinsame Gedenkwachen von muslimischen und jüdischen Menschen. Tendenziell hat sich in der Schweiz ein gewisses Grundvertrauen gegenüber Muslim:innen aufgebaut. Deshalb schaut man nun genau auf den Einzelfall, wer was aus welchem Grund gemacht hat. Der Angriff hat allerdings Fragen aufs Tapet gebracht: etwa zur Rolle von Schulen und Moscheen bei der Prävention vor Radikalisierung von Jugendlichen.
Ihre Studie untersucht hauptsächlich drei Konfliktfelder: den Moscheebau, das Kopftuch und die Imame. Was haben Sie herausgefunden?
In allen drei Bereichen sind die Konflikte stark aufgeladen. Ein Moscheebau wie in Schaffhausen ist erstmal ein lokaler Vorgang. Darauf wurden allerdings viele andere Fragen projiziert.
Was für Fragen wurden projiziert?
Etwa, was für einen Einfluss die Türkei auf den Islam in der Schweiz hat. Oder: Welchen Platz sollen Muslim:innen in unserer Gesellschaft haben? Wie sichtbar darf ihre Präsenz in einer Stadt sein?
Beim Moscheebau sahen wir eine Ambivalenz. Da ist einerseits der mühsame Konflikt, der sich hinzieht. Andererseits gelingt es muslimischen Akteuren vielfach, Gegenstrategien durchzusetzen und aufzuzeigen, welche Chancen solche sichtbaren Bauten eröffnen. Zu wissen, dass es da einen Ort mit ansprechbaren Personen gibt, wirkt vertrauensbildend. Das können Moscheen, die in Kellern von Industriegebäuden gelegen sind, nicht in der Weise leisten.
Wie verläuft der Konflikt ums Kopftuch?
Da gibt es ähnliche Projektionen und vereinfachende Deutungen. Etwa: Wer Kopftuch trägt, ist unterdrückt. Gerade jüngere Musliminnen in der Schweiz betonen, das Kopftuchtragen sei ihre freie und selbstbestimmte Entscheidung. Für sie gehen das Kopftuch und Emanzipation selbstverständlich Hand in Hand. Einige zeigen sich ermüdet darüber, immer dieselben Fragen beantworten zu müssen.
Was ist mit den Imamen?
Das Thema Imame spielt eine grosse Rolle bei islambezogenen Konflikten. Vor kurzem verlangte ein Vorstoss im Nationalrat, in Moscheen müsse zwingend in einer Schweizer Landessprache gepredigt werden. Das ist absurd. Diese Nationalräte sind sich wohl nicht bewusst, in wie vielen Sprachen in den katholischen Kirchen der Schweiz gepredigt wird, von Kroatisch bis Portugiesisch.
Ausserdem wird die Rolle der Imame vielfach überschätzt. So sollen sie etwa zur öffentlichen Sicherheit beitragen und Integrationshelfer im Namen des Staates sein. Diese Debatten geschehen oft über die Köpfe der Betreffenden hinweg, nur sehr wenige Imame kommen öffentlich zu Wort, etwa in Zürich. Einzelne Imame haben zudem die Erfahrung gemacht, dass sich der Verdacht, sie seien an Radikalisierungsprozessen mitbeteiligt, nicht so einfach aus dem Weg räumen lässt. Positiv ist, dass sich Imame verstärkt als Ansprechpartner für Schulen und Behörden einbringen.
Was ist das Besondere an Ihrer Studie?
Unsere Teamarbeit: Es machten Soziologinnen und Theologen mit, muslimische und christliche Sichtweisen wurden integriert. Neu war, dass hier erstmals islamische Theologie auf Augenhöhe dabei war. Wir untersuchten nicht nur islamspezifische Konflikte, in denen Muslim:innen oft mehr Objekte als Subjekte sind. Sondern wir zeigten auch auf, dass Muslim:innen nicht nur sogenannte Probleme machen.
Vielmehr können muslimische Akteur:innen und muslimische Ressourcen auch eine zentrale Rolle spielen bei der Bewältigung von allgemeinen gesellschaftlichen Konflikten – sei es im Hinblick auf den Klimawandel oder soziale Ungleichheit.
Konflikte sind unangenehm. Weshalb stellen Sie das Positive in den Mittelpunkt?
Konflikte werden in der Gesellschaft oft als etwas Negatives wahrgenommen. Gerade in Religionsgemeinschaften – muslimischen wie christlichen – gibt es das Ideal einer Einheit. Einheit sei gottgewollt und alles, was dagegensteht, müsse überwunden werden.
In der Soziologie hingegen werden Konflikte als normal und als eine positive Kraft angesehen. Sie bieten eine Chance für die Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln. Deshalb sollen sie nicht verdrängt werden.
Was für eine Chance bieten Konflikte?
Ich muss vorausschicken: Es ist entscheidend, dass Konflikte möglichst fair ausgetragen werden und ohne physische Gewalt. Die Chance von islambezogenen Konflikten ist, dass wichtige Fragen auf den Tisch kommen. Etwa: Wie ist die Situation der Muslim:innen in der Schweiz? Welche Bedürfnisse haben sie und ihre Gemeinschaften? Wie möchten sie mit dem Staat zusammenarbeiten? Und wie kann eine vielfältige Gesellschaft aussehen?
Im Konflikt werden zudem muslimische Gemeinschaften und ihre Akteure sichtbar. Beim Moscheebau in Wil etwa hat der Imam Bekim Ali solche Bekanntheit erlangt, dass er zur Einweihung des Gotthard-Tunnels eingeladen wurde. In dieser Zeremonie wurde auch die religiöse Vielfalt der Gesellschaft sichtbar gemacht. Die Gesellschaft verändert sich dank Konflikten. So ist etwa auch unser Sozialstaat entstanden.
Wo stehen wir als Gesellschaft heute betreffend Konflikten mit dem Islam – eine Temperaturmessung?
Meine Temperaturmessung ergibt ein ambivalentes Bild. Negativ ist einerseits ein antimuslimischer Rassismus. Wir haben in einer laufenden Studie festgestellt: Mehr als ein Drittel der muslimischen Bevölkerung der Schweiz ist von einer Diskriminierungserfahrung aufgrund der Religionszugehörigkeit betroffen. Das reicht von verbalen bis hin zu körperlichen Angriffen. So wurden vor kurzem im Kanton St. Gallen ein muslimischer Mann im Rollstuhl und sein Sohn angegriffen. Der antimuslimische Rassismus ist ein Ausgrenzungsmechanismus gegenüber einer gesellschaftlichen Gruppe, die in Realität aber sehr vielfältig ist. Er fordert unsere Gesellschaft heraus, ebenso wie der Antisemitismus.
Welche positiven Tendenzen sehen Sie?
Positiv sind andererseits Bestrebungen, muslimische Menschen vermehrt in die Gesellschaft einzubinden. So sind in einigen Kantonen muslimische Seelsorgeprojekte am Laufen. Da arbeiten christliche und muslimische Seelsorgende gemeinsam an der Frage, wie Religion und Spiritualität helfen können, schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Hier setzt sich die Erkenntnis durch, dass muslimische Seelsorgende in den Institutionen einen wichtigen Beitrag leisten. An die Stelle der ständigen Problematisierung von Islam tritt so eine proaktive und gesamtgesellschaftliche Perspektive. Kath.ch
Die Studie: Hansjörg Schmid, Noemi Trucco, Isabella Senghor, Ana Gjeci: Soziale Konflikte. Potenziale aus sozialwissenschaftlicher, islamischer und christlicher Perspektive. Beiträge zu einer Theologie der Religionen. Band 28, Verlag TVZ
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