Kirche wird nur als "politisch" kritisiert, wenn sie Machtverhältnisse angreift, nicht, wenn sie diese stützt, sagt Sebastian Schafer. Foto: Judith Schönenberger

Sebastian Schafer: «Kirchen erfüllen soziale Aufgaben effizienter als der Staat»

Sebastian Schafer (29) kandidiert beim Grünen Bündnis für den Berner Stadtrat. Der Theologe möchte Kirchenmitglieder und Grüne wieder näher zusammenbringen.

 

Sylvia Stam

Der Kanton Bern diskutiert gerade über die Freiwilligkeit von Kirchensteuern für Unternehmen. Sind diese noch zeitgemäss?

Sebastian Schafer: Ja, eindeutig. Ich sehe das Argument, dass viele Menschen zunehmend konfessionslos sind. Aber hinter der Abschaffung steckt ein Konsumgedanke: Ich bezahle nur für Leistungen, die ich auch beziehe. Die Kirchensteuer ist jedoch ein Instrument, bei dem Menschen solidarisch einen Beitrag leisten, der allen zugutekommt. Gleichzeitig haben alle das Recht, solche Leistungen zu beziehen. Auch Unternehmen sollen einen Beitrag an die Leistungen zahlen, welche die Kirche erbringt und von denen auch die Angestellten des Unternehmens profitieren. 

Dennoch könnten diese Steuern in naher Zukunft wegfallen, sodass die Kirchen viele soziale Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten. Wer soll aus Sicht der Grünen in diese Lücke springen?

Sebastian Schafer: Der Staat könnte diese übernehmen, doch er könnte das nicht gleich niederschwellig. Die Kirche kann auf viele Freiwillige zurückgreifen. Denken wir an die soziale Vereinsamung im Alter. Hier erbringt die Kirche extrem viele Leistungen durch soziale Netze, durch Besuche, durch die Verwurzelung, die sie den Menschen bietet. Natürlich streben wir auch an, staatliche Strukturen wie die städtischen Sozialdienste zu stärken. Meiner Meinung nach kann die Kirche das aber mit weniger Ressourcen, sehr viel effizienter und vor allem menschlicher: mit mehr Nähe und mehr Tiefe. 

Viele Kirchen haben sich für die Konzernverantwortungsinitiative engagiert. In Bern kam das nicht überall gut an. Dürfen Kirchen Politik machen, auch mittels Bannern an Kirchtürmen? 

Sebastian Schafer: Ja. Die Kirche hat die Aufgabe, sich für eine bessere, gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Das geschieht auch über politische Stimmen und Meinungen. Ich finde es verlogen, dass sich die Kirche sich nur zu gewissen Themen äussern soll, die in konservativen Kreisen akzeptiert sind. Meistens Fragen, die scheinbar nur die individuelle Lebensführung betreffen, wie Sexualität oder Abtreibung. Auch ein wenig Ermahnen zu mehr Gerechtigkeit wird akzeptiert, aber nur, solange die Kritik unkonkret bleibt. Sobald die Kirche bestehende Privilegien und Machtverhältnisse angreift, heisst es, sie sei politisch. Wenn sie diese stützt, natürlich nicht. Das hat System.

Es gibt kirchliche Kreise, die sich für den Schutz des ungeborenen Lebens stark machen. Dann könnte die Kirche also auch Banner an ihre Türme hängen, die sich gegen Abtreibung aussprechen? 

Sebastian Schafer: Die Kirche veröffentlicht ja bereits Medienmitteilungen gegen Abtreibung. Das Banner wäre einfach ein weiterer Schritt. Ich fände das diskriminierend und theologisch falsch, weil es die Würde und Entscheidungsfähigkeit der Frau nicht ernstnimmt. Aber wenn eine Kirchgemeinde sich dazu entschliesst, ein Banner gegen Abtreibung aufzuhängen, kann ich ihnen das Recht nicht absprechen.

In Luzern wollten die jungen Grünen Gott aus der Kantonsverfassung streichen. In Bern ist er bereits nicht mehr drin. Wo stünden Sie als Grüner Politiker, wenn Sie in Luzern wohnhaft wären?

Sebastian Schafer: Gewisse politische, menschliche und christliche Überzeugungen wie die Menschenwürde oder das Prinzip der Nächstenliebe sind nicht verhandelbar. Das wird mit dem Rückgriff auf die Verantwortung vor Gott ausgedrückt. Persönlich finde ich es schön, was damit ausgedrückt wird, aber das muss nicht mit Bezug auf einen christlichen Gott geschehen. Unter dem Aspekt von Religionsfreiheit und unter dem laizistischen Aspekt finde ich es gerechtfertigt, wenn man den Begriff «Gott» aus der Kantonsverfassung streicht.

Das Grüne Bündnis wirbt mit dem Slogan «Solidarisch, feministisch, grün». Wie feministisch sind Sie persönlich? 

Sebastian Schafer: Im Theologie-Studium hatte ich mit feministischer Theologie und Fragen rund um Gleichberechtigung in der katholischen Kirche zu tun. Im politischen Diskurs genauso wie im kirchlichen Kontext geht es um Formen und Bilder von Männlichkeit oder Weiblichkeit. Weil die katholische Kirche sehr patriarchal strukturiert ist, gibt es hier viele Diskussionen um das Weiheamt, das Männern vorbehalten ist. Was für ein Männer- und Frauenbild steckt dahinter? Ähnliche Diskussionen kommen aus dem politisch linken Kontext: Was macht einen Mann aus? Was ist das gesellschaftliche Bild eines Mannes, einer Frau etc.?

Das Grüne Bündnis macht sich dafür stark, dass Berner Strassen nach Frauen benannt werden sollen. Welche Frauen fallen Ihnen spontan ein, die das verdient hätten?

Sebastian Schafer: Anna Seiler, die Gründerin des Inselspitals, Vivienne von Wattenwyl, eine spannende Frau, die viele Rollenbilder ihrer Zeit durchbrach und der Natur äusserst verbunden war – und gleichzeitig kolonialistische Jagdzüge durch Afrika unternahm.

Wofür engagieren Sie sich als Grüner Politiker besonders?

Sebastian Schafer: Für die Unterstützung von Menschen, die Hilfe brauchen. Auf kantonaler und nationaler Ebene wird hier radikal gespart: Bei Sozialleistungen, bei älteren Menschen, solche mit psychischen Problemen, bei Langzeitarbeitslosen etc . Das muss die Stadt auffangen. Hier leisten die Kirchen enorm viel etwa bei der Beratung von Sozialhilfebezüger:innen, die überfordert sind, die Ansprüche, die sie haben, überhaupt geltend zu machen. Hier sollte auch die Stadt Unterstützung bieten, da wären Synergien mit den Kirchgemeinden möglich. 

Die Grünen im Kanton Bern sind den Kirchen recht wohlgesinnt im Vergleich mit anderen Kantonen. Woran liegt das?

Sebastian Schafer: Es gab bei den Grünen in Bern eine Nähe zu den kirchlichen Reformbewegungen der 60er bis 80er Jahre, welche etwa auch die NGO «Erklärung von Bern» (heute Public Eye) hervorgebracht hat. Diese Generation war geprägt von der politischen Theologie, der Befreiungstheologie, der feministischen Theologie und spannte zusammen mit der Antikriegs- und der Anti-Atomkraftbewegung. In kirchlichen Kreisen war auch früh ein starkes Bewusstsein für die Klimakrise als grösste Herausforderung unserer Zeit vorhanden.  Viele dieser Leute sind in die grüne Bubble hineingerutscht. Heute geht diese Verbindung durch die Säkularisierung und Überalterung der Kirchenmitglieder leider verloren. Es ist mein Ziel, diese beiden Gruppen wieder in einen Diskurs zu bringen. 

* Transparenzhinweis: Sebastian Schafer ist Mitglied im Vorstand und im Beirat des «pfarrblatt» Bern. Der Theologie ist Mitglied beim Grünen Bündnis und kandidiert für den Berner Stadtrat.