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Erinnerungen
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Wenn ich als kleines Mädchen bei meiner Grossmutter übernachtete und sie mich ins Bett brachte, fragte sie mich vor dem Gute-Nacht-Sagen jedes Mal dasselbe: «In welches Land möchtest Du in Deinem Traum reisen?» Meistens lenkte sie mich geschickt in die von ihr gewünschte Richtung und ich sagte: «Brasilien.» Und meine Grossmutter erzählte mir von ihrer Reise nach Rio, vom Zuckerhut und schilderte mir auch, wie die Menschen dort lebten.
Nach einem meiner Besuche in einem Krankenzimmer kam mir diese Geschichte wieder in den Sinn: Mein Besuch galt einer alten Frau, die wegen eines Sturzes nicht selber aufstehen durfte und deswegen immer im Bett liegen musste. Wegen einer Infektion war sie zudem isoliert. Als ich sie fragte, wie sie das aushalte, immer so allein im Zimmer und immer im Bett liegen zu müssen, gab sie mir zur Antwort: «Ich reise.» Erstaunt und neugierig schaute ich sie an. «Wissen Sie», fuhr Sie fort, «in meinen Gedanken erlebe ich nochmals jede Bergwanderung, die ich mit meinem verstorbenen Mann machte. Ich bestaune die Bergblumen, erfreue mich an der Aussicht und weiss noch genau, wie es sich anfühlte, als ich nach einer grossen Anstrengung den Gipfel erreichte. So gehen die Tage schnell vorbei.»
Ganz bereichert verliess ich ihr Zimmer. Wie tröstend und stärkend können Erinnerungen sein!
Martina Wiederkehr-Steffen, Seelsorgerin im Inselspital