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Den roten Faden verlieren?
Kolumne aus der Inselspitalseelsorge
Die Frau ist ungefähr in meinem Alter und spricht ganz offen über ihre beginnende Demenz. Mitten im Satz hört sie auf zu sprechen. Sie habe auf das Bild einer Rose geschaut, das auf dem Tisch liegt, und dann sei alles andere verschwunden. Ihre Gedanken sind so flüchtig geworden wie eine Schar aufgeschreckter Spatzen, und es sei ihr unmöglich, diese festzuhalten. Gemeinsam beruhigen wir die Vogelschar und navigieren durch das von ihr gewünschte Gespräch. Sie fürchte sich enorm, den roten Faden komplett zu verlieren.
Ins Tauwerk der englischen Marine, so erzählt Goethe in den «Wahlverwandschaften», sei ein roter Faden gesponnen, der unmöglich herausgelöst werden könne und damit jedes noch
so kleine Stück Seil kennzeichne. Daher kommt es, dass wir vom roten Faden sprechen, in einem Text, in einer Geschichte, im Leben. In diesem Bild gesprochen, kann der rote Faden im Leben nicht verloren gehen, sondern er ist im Gegenteil ein charakteristisches Merkmal, welches überall eingesponnen ist, wie eine Art DNA des individuellen Lebens.
Irgendwie kommen wir auf die Kirche zu sprechen. Sie legt ihre Hand aufs Herz und atmet lange aus. Kirchenräume, Rituale, Bilder, Weihrauch, Lieder steigen auf. Wie gerne hat sie mit ihren Kindern das Kirchenjahr gestaltet! Da ist etwas eingewoben, das ihr Kraft gibt. Sie spürt, dass nicht sie den roten Faden hüten muss, sondern dass sie darauf vertrauen kann, dass er nicht verloren geht. Auch wenn sie langsam die Kontrolle verliert.
Sie zeigt mir eine kleine Holzfigur, die ihr die Tochter ins Spital gebracht hat. Eine stehende Frau wird von hinten von einer anderen Frau umarmt. Ist es ein Engel? Das Gesicht meines Gegenübers wirkt weich und entspannt. Ich nehme Inseln der Ruhe und der Geborgenheit wahr. Demenz ist eine kognitive Erkrankung. Gefühle werden nicht dement.
Marianne Kramer, Seelsorgerin im Inselspital