Der Ethiker Frank Mathwig glaubt an die Empathiefähigkeit unserer Gesellschaft. Foto: Thomas Müller/fotolight
«Der Bundesrat entmündigt unser Mitgefühl»
Der Ethiker Frank Mathwig zum neuen Transplantationsgesetz
Eine ausdrückliche Zustimmung zu einer Organspende hält Frank Mathwig* für wichtig. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Widerspruchslösung birgt für den reformierten Ethiker zu viele Unsicherheiten. Ein Beitrag zur Abstimmung über das Transplantationsgesetz vom 15. Mai.
Interview: Sylvia Stam
«pfarrblatt»: Die Widerspruchslösung geht davon aus, wenn wir nicht explizit Nein sagen zur Entnahme unserer Organe, bedeutet das Zustimmung. Was ist daran problematisch?
Frank Mathwig: Das birgt enorme Unsicherheiten. Aus der Alltagserfahrung wissen wir: Wenn ich nichts sage, kann das eine schweigende Zustimmung sein. Es könnte aber auch sein, dass ich mich einfach nicht dazu äussern möchte oder dass ich gar nicht weiss, dass ich mich hätte äussern müssen, dass das für mich überhaupt relevant ist. Es ist also nie klar: Ist ein Schweigen in der ersten, zweiten oder dritten Variante zu deuten?
Gibt es denn ein Recht, mich nicht äussern zu müssen?
Ja, es gehört zu den Grundrechten, seine Meinung über sich und die Welt äussern zu dürfen. Das gilt auch umgekehrt: Ich darf nicht gezwungen werden, mich zu äussern. Ich kann meine Ansichten über meinen Körper, meine Vorstellung von Leben und Tod öffentlich äussern. Ich habe aber auch die Freiheit zu sagen: Nein, das möchte ich für mich behalten.
Was bedeutet die Widerspruchslösung für Empfänger:innen von Spendeorganen?
Für ein gutes Leben mit einem fremden Organ ist es für Empfänger:innen enorm wichtig, dass die Spende wirklich freiwillig zustande kam. Bei der Widerspruchslösung ist das Schweigen mehrdeutig, wie wir gesehen haben. Ausserdem wird das Besondere der Transplantationsmedizin verschleiert, wenn der Spendencharakter zum Normalfall erklärt wird.
Warum geraten Angehörige Ihrer Meinung nach bei der Widerspruchslösung stärker unter Druck?
Für das Medizinpersonal in Schweiz ist wesentlich: «Ich brauche ein klares Ja, bevor ich einen Eingriff mache.» Dieses Ja bekommt das Personal jedoch nicht bei der Widerspruchslösung, sondern es bekommt allenfalls kein Nein. Ein Ja gibt es nicht, weil das gar nicht abgefragt wird.
Was trage ich also in das Register ein, wenn ich spendewillig bin?
Gar nichts. Sie sagen einfach nicht nein. Wenn Sie ein Ja eintragen, dann stimmen Sie einer Spende zu, das wäre bei der Zustimmungslösung der Fall. Das Beste für die Transplantationsmedizin wäre, wenn sie ein leeres Register bekäme, denn im Register werden nur die Widersprüche festgehalten.
Gemäss Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, kann ich im Register auch eintragen, dass ich mich nicht äussern möchte.
Das wäre dann nicht die Widerspruchs-, sondern die Erklärungslösung auf Zustimmungsbasis: Ja oder ich äussere mich nicht. Letzteres bedeutet dann, es dürfen keine Organe entnommen werden. Das ist die allerklarste Regelung. Wichtig ist diese Option: Wenn ich mich nicht äussere, dürfen die Organe nicht entnommen werden.
Warum ist es so wichtig, dass der Staat die körperliche Integrität vulnerabler Personen schützt?
Wenn wir eine ethische Diskussion führen, machen wir sie in der Regel an einem bestimmten Problem fest. Häufig geht es dabei um eine vulnerable Gruppe. Am Anfang der Pandemie waren das beispielsweise die hochaltrigen Menschen. Ihre Freiheiten wurden eingeschränkt, weil sie als besonders vulnerabel galten. Im Verlauf der Pandemie kamen andere vulnerable Personen und Gruppen in den Blick, etwa Kinder und Jugendliche, die unter der Isolation litten. Dadurch, dass man so auf die Betagten fokussierte, wurden alle anderen vulnerablen Personen ausser Acht gelassen.
Inwiefern zeigt sich das gleiche Problem bei der Widerspruchslösung?
Wir fokussieren auf die Personen, die dringend ein Organ brauchen. Für diese Gruppe streben wir eine massgeschneiderte rechtliche Lösung an. Diese richtet sich jedoch gegen andere vulnerable Gruppen, die wir nicht mit im Blick haben. Wenn wir hingegen die Persönlichkeitsrechte, in diesem Fall das Recht auf körperliche Integrität, als übergeordneten Wert anerkennen, haben wir jede Form von Vulnerabilität im Blick. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Grundrechte geschützt werden.
An welche anderen Gruppen denken Sie?
An alle Menschen, die für ihre Rechte und ihren Schutz nicht aktiv eintreten können: Menschen mit Demenz-Erkrankung oder mit anderen starken Beeinträchtigungen. Der Staat schützt stellvertretend die Menschen, die für ihren eigenen Schutz nicht selbst eintreten können. Das aufzugeben, wäre ein enormer Verlust unserer Rechtskultur.
Aber man könnte diese Menschen doch von der Widerspruchslösung ausnehmen.
Es geht um das Prinzip. Zu den Grundrechten jeder Person gehört der Schutz davor, dass Drittpersonen mir willkürlich unter die Haut gehen. Bisher gilt: Niemand darf auf meinen Körper zugreifen. Das ist die negative Freiheit. Diese würde mit der Widerspruchslösung aufgeweicht, weil Dritte Zurgriff auf meinen Körper hätten, wenn ich mich nicht aktiv dagegen wehre.
Wäre dieses Grundrecht auch gefährdet bei einer allgemeinen Impfflicht?
Ja, auch das wäre eine Verletzung der körperlichen Integrität. Zwar erlaubt Artikel 36 der Bundesverfassung Einschränkungen der persönlichen Rechte zugunsten elementarer Interessen der Gemeinschaft. Die Einschränkungen müssen allerdings zielführend und verhältnismässig sein. Eine Impfpflicht hätte jedoch nicht mit der notwendigen Gewissheit zum Ziel geführt. Es war damals schon klar, dass mit den vorhandenen Impfstoffen ein vollständiger Schutz nicht erreicht werden kann.
Gilt das auch für die Widerspruchslösung?
Ja. Der Gesetzgeber kann sich nicht auf Artikel 36 berufen, weil die Widerspruchslösung gemäss Studien keine Ausweitung der Anzahl Spender:innen garantiert.
Was gibt es für gute ethische Gründe, ein Organ zu spenden?
Wenn wir vom Schicksal einer Person ergriffen werden, überlegen wir nicht ethisch. Wir sind betroffen von der Not, wir reagieren empathisch, wir lassen uns berühren. Mir ist noch nie eine Kugel um den Kopf geflogen und trotzdem bin ich für die Not von ukrainischen Flüchtlingen empfänglich. Warum reden wir die Empathiefähigkeit unserer Gesellschaft häufig so klein? Wir sollten auf unsere Empathie-Fähigkeit setzen. Dass wir Not sehen, ohne sofort auf Distanz zu gehen.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie von einem Perspektivenwechsel.
Statt uns zu fragen, ob wir Organe spenden wollen oder nicht, sollten wir die Frage umdrehen: Was ist, wenn ich heute Abend plötzlich im Spital lande und nur mit einem neuen Herz am Leben bleiben könnte. Wie wäre das für mich? Welche Hoffnungen und Erwartungen hätte ich? Wie würde sich das anfühlen?
Damit versetze ich mich in eine Organempfängerin.
Richtig, aber die Frage lautet nicht: Will ich ein Organ haben? Sondern die Frage lautet: Wie fühlt sich das an? Ich kann nur überleben, wenn eine Person da ist, die spendet. Und diese Person gibt es nicht. Was löst das in mir aus? Es geht nicht um moralische Urteile. Ich glaube daran, dass unsere Gesellschaft empathisch ist. Unser Mitgefühl braucht keine rechtlichen Krücken. Was der Bundesrat jetzt macht, ist eine Entmündigung unsers Mitgefühls.
* Frank Mathwig ist Titularprofessor für Ethik am Institut für Systematische Theologie an der Universität Bern und Mitglied der Nationalen Ethikkommission. Er ist ausserdem Beauftragter für Theologie und Ethik bei der Evangelisch-Reformierten Kirche Schweiz.
Abstimmung über das Transplantationsgesetz
Bisher dürfen Organe nur entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat. Ist dies nicht der Fall, liegt der Entscheid bei den Angehörigen (erweiterte Zustimmungslösung).
Die Gesetzesänderung des Bundes sieht vor, dass jede Person als Spender:in gilt, ausser sie hat zu Lebzeiten explizit festgehalten, dass sie keine Organe spenden will. Liegt keine Willensäusserung vor, werden die Angehörigen befragt (erweiterte Widerspruchslösung). Sind keine Angehörigen da und ist der Wille unbekannt, dürfen keine Organe entnommen werden.
Die Gesetzesänderung ist ein indirekter Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative, die daraufhin zurückgezogen wurde. Gegen den Vorschlag des Bundes wurde das Referendum ergriffen. Daher kommt es am 15. Mai zur Abstimmung über das Transplantationsgesetz.