Expertin für die Farbe Schwarz: Diplom-Restauratorin Cornelia Marinowitz unter dem Chorgewölbe im Berner Münster. Sie hat entdeckt, dass die Figuren im Originalzustand erhalten sind.

Der Drachentöter ist entlarvt

24.05.2017

Diplom-Restauratorin Cornelia Marinowitz über ihre Arbeit am Himmlischen Hof des Berner Münsters.

Die Restauratorin Cornelia Marinowitz hat zusammen mit einem engagierten Team verschiedene Rätsel des Bildprogrammes hoch im Chor des Berner Münsters gelöst. Dessen komplette Restauration wird diesen Sommer abgeschlossen. Der geheimnisvolle Drachentöter, einer der bisher unbestimmten Schlusssteine, ist enttarnt. Ein Gespräch, 16 Meter über Grund am Himmlischen Hof.

«pfarrblatt»: Wir sitzen direkt unter dem Chorgewölbe. Wie sind Sie an den Himmlischen Hof, so nennt man diese Darstellung des Paradieses, in Bern gekommen?
Cornelia Marinowitz: Die stellvertretende Münsterarchitektin Annette Löffel hat mich darum gebeten. Ich habe Frau Löffel an einem Workshop über die Farben Schwarz/Weiss kennengelernt. Mein Forschungsgebiet seit 16 Jahren ist die Farbe Schwarz. Nach dem Workshop 2011 hat mich Frau Löffel gefragt, ob ich mal nach Bern ins Münster komme, um sie bei den Untersuchungen der Farben zu unterstützen.

Und dann hat Sie das Münster gepackt ...
Zuerst blieb ich als Unterstützung für die Restauratorin. Damals untersuchten wir zwei Achsen an der Nordwand des Münsters. Dann ging es darum, die Arbeiten am Himmlischen Hof vorzubereiten. Ein kleines Gerüst wurde bis hier hochgezogen, damit man einen ersten Blick ins Gewölbe werfen konnte. Im Frühjahr 2012 habe ich dann das erste Mal das Gewölbe aus der Nähe gesehen. Alle haben wir erwartet, dass wir Figuren finden, die vielleicht im 18. Jahrhundert schon überarbeitet worden sind. Als ich die ersten Schlusssteine sah, wurde ich sehr unsicher. Ich glaubte zu erkennen, dass hier Schlusssteine zu sehen sind, die ursprünglich waren, also im Originalzustand von 1517 geblieben sind.

Das war Ihnen auf den ersten Blick klar?
Ja. Es gibt verschiedene Indizien, die zeigen, ob eine Figur überarbeitet worden ist. Überarbeitet werden Figuren meist, weil die Fassung kaputt oder aus der Mode ist. Man sieht dann oft Fehlstellen unter den Übermalungen. Die fand ich auf den zugänglichen Schlusssteinfiguren nicht. Die Reinigungen von 1910 hingegen waren deutlich zu erkennen, Wischspuren der eingesetzten Besen zum Beispiel auf den Kappen.

War das für Sie wie ein Sensationsfund?
Ja (lacht). Es ist natürlich immer etwas schwierig, diese Vermutung zu kommunizieren, weil bisher kaum jemand davon ausging, dass die Figuren im Original erhalten geblieben sind. Also musste ich mir dann Sicherheit verschaffen. Aber das war schon ein ganz besonderes Gefühl. Figuren im Original findet man sehr selten. Ich war vorerst vorsichtig und hab mich gefragt, ob ich was übersehen hätte. Aber es bestätigte sich bald – wir hatten Figuren mit Bemalung im Originalzustand von 1517 vor uns. Ein Glückstreffer. Das habe ich in meiner über dreissigjährigen Tätigkeit so noch nicht gesehen.

Was waren die Gründe, dass diese Schlusssteine unangetastet blieben?
Möglicherweise weil hier die Reformation durch die Lande ging. In katholischen Ländern hat man den Chor einer Kirche immer wieder renoviert und an den Zeitgeist angepasst. Zudem spielt eine Rolle, dass der Chorhimmel so hoch über den Boden liegt. Die Bilderstürmer kamen zum Glück nicht an die Figuren heran.

Sie haben in Schlössern gearbeitet, aber auch verschiedene Kirchenprojekte begleitet. Verändert die Arbeit an einer solch prächtigen Paradiesdarstellung wie hier den eigenen Glauben?
Da stellen Sie mir eine schwierige Frage. Nein, es veränderte mich glaubensmässig nicht. Ich bin protestantisch aufgewachsen, aber in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Fragen Sie mich jetzt nicht warum, das ist schon so lange her. Es gab irgendwie keinen Bezug mehr zur Institution für mich. Aber der Respekt vor den damaligen Handwerkern und dem Zeitgeist wächst natürlich an einem solch besonderen Ort. Und das Arbeiten bekommt einen besonderen Tiefgang, durchaus.

Der Himmlische Hof hier ist wohl nach einem bestimmten Plan komponiert, von der Trinität im Osten bis zu den Bauleuten im Westen. Er stellt das Paradies dar, das nur durch die Familie Jesu, Apostel, Heilige, Bischöfe und Märtyrerinnen bevölkert ist. Der Rest der Menschheit wartet im Grab auf die Auferstehung, so die Vorstellung der Spätgotik.
Bisher hat hier noch keiner so richtig hinter das Programm geschaut, das dieser Darstellung und Figurenauswahl zugrunde liegt. Es ist auch noch nicht klar, wer für dieses Programm die Verantwortung trägt. Wir wissen, wer es bezahlt hat: die Stadt Bern. Und deshalb sind wohl auch Lokalheilige hier oben vertreten wie der Heilige Vinzenz, Urs oder Beatus. Der Auftraggeber hatte meistens ein Mitspracherecht beim Thema. Bezeichnend ist, dass der Himmlische Hof kurz vor der Reformation gebaut wurde. Niklaus Manuel, ein späterer Reformer, hat hier persönlich gearbeitet. Es ist erstaunlich, das er als wichtiger Reformer noch an einem solchen Bildprogramm beteiligt war.

Gab es Vorbilder für dieses Programm?
Das ist eben die Frage. Wir haben bisher keine Vorbilder gefunden. Der Werdegang dieses Bildprogramms liegt im Dunkeln. Wir kennen die Figuren, haben jetzt, bis auf eine alle entschlüsselt, wir kennen die Anordnung, aber nicht den Bezug, nach dem sich das Programm aufbaut. Es gibt dazu keine schriftlichen Quellen. Das Bildprogramm ist sehr ausgeklügelt, bis hinein in die Auswahl der Farben. Es wurden zum Beispiel nur die liturgischen Farben verwendet. Gelb gibt es deshalb nur bei den Drachen. Alle Figuren hier oben wurden zudem seriell bemalt.

Wie ist dieses «seriell» zu verstehen?
Damals hat man die Schlusssteine zuerst eingepasst, dann alle grundiert, darauf die Goldfarbe aufgetragen, dann alle Gesichter gemalt und die Gewänder. Fast immer kommt die Farbe Grün vor Rot. Die Figuren wurden zudem hier oben bemalt. Das sieht man gut, weil die Farbe nach unten tropft. Einige Steine wurden zudem beschädigt beim Einbau und wurden dann mit Farbe sozusagen geflickt und ausgebessert. Man kann also diese Serialität der Farbauftragung nachweisen. Schon deshalb musste eine Vorlage vorhanden gewesen sein, die zum Beispiel bestimmte, welche Farbe für was verwendet wird.

Hatte Niklaus Manuel etwas mit dem Bildprogramm zu tun?
Das weiss man einfach nicht. Er wurde für den Auftrag bezahlt – mit einer ziemlich stattlichen Summe. Auch seine Gesellen wurden bezahlt. Und weil er mit diesem Lohn auch Farben bezahlen musste, ist schon vorstellbar, dass er auf das Bildprogramm Einfluss genommen hat. Er hat sicher nicht umsonst hier auf den Kappen sein Signet hinterlassen.

Die Figuren sind sehr realistisch dargestellt.
Sie haben unterschiedliche Qualitäten, weil sie von unterschiedlichen Bildhauern stammen. Die Farbgebung ist dann einheitlicher und teilweise sehr detailliert. Es gibt Augenschatten und sogar einige Mönche mit Dreitagebart.

Erstaunlich ist, dass man das von unten ja gar nicht sehen kann.
Genau. Hier hat man nicht für Kirchgänger Stein bearbeitet oder bemalt. Man wusste – das sieht ein anderer.

Auch die Gewänder sind schön bemalt.
Durch unterschiedliche Bindemittel hat man unterschiedliche Stoffe imitiert. Man kann Seide von Baumwolle unterscheiden, wir haben matte und glänzende Stoffe. Man versuchte die Dinge naturgetreu darzustellen, das war der Zeitgeist. Im Barock wird ja dann alles Illusion.

Ist jetzt klar, wen der geheimnisvolle Drachentöter darstellt? In einer Untersuchung von 2014 wurde noch vermutet, dass es Beatus sein könnte.
Nein, Beatus ist weiter östlich eigens dargestellt. Lange wussten wir bei diesem Schlussstein nicht, was der Rabe soll, der dem Drachen neben dem Knüppel des Heiligen ins Ohr pickt. Bis dann einmal ein Besucher auf die Legende des Beatus aufmerksam machte. Diese erzählt, dass Beatus den Drachen mit einem Knüppel aus der Drachenhöhle in den Thunersee treibt und dass dabei dem fallenden Drachen Raben hinterherfliegen. Da hatten wir den Beatus. Das Rätsel Drachentöter blieb. Mir fiel dann auf, dass der vermeintliche Drachentöter keinen Drachen, sondern einen Greif im Arm trägt. Der Greif beisst sich zudem eine Klaue ab. Das verwies auf den Heiligen Himerius, der auf dem Rückweg von einer Pilgerreise eine Stadt von einem Greifen befreite und eine Klaue von ihm mitbrachte. St. Imier im Berner Jura ist nach ihm benannt. Er ist also einer der Heiligen mit Bezug zu Bern.

Eine detektivische Arbeit!
Die ist sehr spannend und nur in einem Team zu leisten. Das ist hier wirklich grossartig, wie wir hier mit der Münsterbauhütte und den Restauratorinnen arbeiten können.

Eine Figur konnten Sie nicht zuordnen?
Ja, eine der Märtyrerinnen. Sie hat einen Palmwedel und ein Buch in der Hand. Diese Attribute sind so allgemein, dass eine Zuordnung bisher nicht möglich war.

Haben Sie eine Lieblingsfigur am Himmlischen Hof?
(Steht auf und geht zu einem der acht Wappenengel, die das Wappen Berns in Händen halten). Dieser Wappenengel passt eigentlich zu gar nichts hier oben. Er sieht etwas verhungert aus, das Kleid ist ihm zu gross, er streckt seine Füsse eigenartig hervor und macht ein wirklich trauriges Gesicht. Er rührt mich irgendwie. Die anderen sieben Wappenengel sind entweder puttenartig oder in höfischen Gewändern dargestellt. Wenn man hier nicht genau datieren könnte, würde man diesen Engel zeitlich woanders ansiedeln.

Wie geht es nun weiter?
Nach gut sechs Jahren werden wir im Sommer das Feld räumen müssen. Im November wird der Chor wiedereröffnet. Und dann wird der Himmlische Hof wieder seiner Bestimmung überlassen. Wohl für lange Zeit (schaut etwas wehmütig zu den Figuren hoch).

Fällt Ihnen der Abschied schwer?
Nun, wir werden diese Kostbarkeiten sicher im Auge behalten.

Interview: Jürg Meienberg

Berner Münsterstiftung

Ausgebucht! Die «pfarrblatt»-Führung in den «Himmlischen Hof» vom 6. Juni war bereits nach zwei Tagen komplett ausgebucht. Wir wurden von Anfragen förmlich überflutet. Nach Rücksprache mit den Münster-Verantwortlichen mussten wir eine Obergrenze akzeptieren. Es tut uns sehr leid, dass wir darum vielen Interessierten absagen mussten. Wir haben die Anmeldungen chronologisch nach Eingang berücksichtigt. Den Glücklichen, die frühzeitig buchten, wurde ihre Teilnahme bestätigt. Alle anderen begrüssen wir hoffentlich bei der nächsten «pfarrblatt»-Veranstaltung. Die Redaktion