Tunnelblick. Foto: fotolia
Der Gotthard-Basistunnel bewegt - hoffentlich
Bei der Segensfeier wird Pater Martin Werlen eine reformierte Pfarrerin zur Seite gestellt. Der Pater erzählt die Vorgeschichte aus seiner Sicht.
Der Gotthard-Basistunnel bewegt – hoffentlich! Die «Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der Schweiz» (AGCK) einigte sich einstimmig, Pater Martin Werlen vom Kloster Einsiedeln als christlichen Vertreter an die Segnungsfeier des Gotthard-Basistunnels vom 1. Juni zu entsenden. Irgendwie war es dann aber mit der Einstimmigkeit plötzlich nicht mehr weit her. Eine reformierte Pfarrerin wird nun ebenfalls an der Feier ein paar Worte sprechen.
Martin Werlen schreibt zu der ganzen Geschichte: Es ist für mich eine grosse Freude, dass dem zuständigen Bundesamt und der Leitung der SBB eine Segensfeier bei der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ein Anliegen ist. Besonders freue ich mich mit den vielen Menschen, die an diesem Projekt gearbeitet haben und für diejenigen, die in Zukunft im Tunnel arbeiten oder durchreisen. Segnen heisst: Gut sprechen ("bene-dicere"). Da ist die Überzeugung dahinter: Gott meint es gut mit uns. Das ist die grosse Botschaft, die wir als gläubige Menschen verkünden dürfen. Es ist unsere Berufung, Segen zu sein und zu segnen.
Den Verantwortlichen wurde klar, dass bei einem Projekt von solcher internationaler Bedeutung auch die religiöse Feier entsprechend gestaltet werden soll. Vier Menschen – delegiert von den grossen monotheistischen Religionen und bestimmt aus der Gruppe derjenigen, die zu keiner Religionsgemeinschaft gehören – konnten sich auf ein schlichtes Konzept einigen. Die Form der Feier ist in der aktuellen Weltsituation ein starkes Zeichen weit über unsere Landesgrenzen hinaus. Nur im Miteinander gelingt das Leben. Miteinander werden wir bald einmal im Alltag im gleichen Zug durch das Gotthardmassiv fahren.
Staub aufgewirbelt hat die Vertretung der Christinnen und Christen. Die Arbeitsgemeinschaft der Christlichen Kirchen in der Schweiz AGCK hatte im November 2015 den Mut, wie die anderen Beteiligten eine einzige Person zu delegieren. Alle Konfessionen haben das einstimmig mitgetragen. Das wäre tatsächlich das erste Mal gewesen, dass die Getauften in unserem Land ein solches Zeugnis gegeben hätten. Für einige offensichtlich zu viel.
Von verschiedenen Seiten tönte es: "Die Einervertretung aller Getauften wird von der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer nicht verstanden." Zeugt nicht gerade eine solche Einschätzung vom Machtgehabe von Getauften, die nicht realisieren, dass sie die Macht – Gott sei Dank! – schon länger nicht mehr haben? Dafür wird sogar der Mythos Gotthard in den Blick genommen. Realisieren wir nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung über unser Getue lacht oder sich gleichgültig distanziert?
Am 19. Mai fand in Bern eine Sitzung statt, damit diese Feier würdig stattfinden kann. In der schwierigen Situation schlug ich zwei Alternativen vor. Erstens: Ich gebe meine Delegation ohne jeden Groll zurück und die AGCK delegiert dafür eine Person aus der protestantischen Tradition. Ich setze mich in der Öffentlichkeit mit allen Möglichkeiten ein, dass diese Person wahrgenommen wird als die Stimme aller Getauften. Zweitens: Die AGCK delegiert eine zweite Person, eine aus der protestantischen Tradition. Diese übernimmt den vorbereiteten und von allen Teilnehmenden akzeptierten Textteil in italienischer Sprache (jeweils zwei Sätze aus den Heiligen Schriften und ein kurzes Gebet), ich selbst vollziehe am Schluss das Zeichen der Besprengung mit Wasser. Die neu delegierte Person vertritt genauso wenig die Reformierten wie ich die Katholiken. Diese Lösung ist eine Abschwächung des ökumenischen Zeichens. Aber zumindest hörbar sind auch die Christinnen und Christen mit einer Stimme präsent.
Die Gruppe hat sich für diese zweite Alternative entschieden. Dies ist, wie eine Journalistin schreibt, eine vertane Chance. Es ist eine Schwächung des ökumenischen Zeugnisses. Die Person aus der protestantischen Tradition kann uns Getaufte selbstverständlich vertreten. Da müsste ich gar nicht dabei sein. Geblieben bin ich aus Respekt vor den vielen Menschen, die an diesem Tunnel gearbeitet haben, die neun Männer, die ums Leben kamen, deren Angehörigen, und die Menschen, die in Zukunft dort arbeiten oder reisen. Für viele von ihnen ist das Zeichen des Segens wichtig – ein Zeichen, das die protestantische Tradition nicht kennt. Geblieben bin ich auch aus Wertschätzung gegenüber allen Getauften, die in der AGCK vertreten sind.
Was ich am gleichen Abend auf Portalen der reformierten Kirche sah, stimmte mich sehr traurig. "Erfolg für die Reformierten" – "Damit wird die ökumenisch-christliche Dimension der interreligiösen Feier unterstrichen" – "Die Reformierten sind nun doch dabei" – "Damit wollen die Reformierten ein doppeltes Zeichen setzen. Einerseits als starke Glaubensgemeinschaft Präsenz markieren und andererseits die gleichberechtigte Rolle der Frau in der reformierten Kirche hervorheben". Selbstverständlich: Wer in solchen Kategorien denkt, wird Mühe haben, in einem Angehörigen einer anderen Konfession zuerst einen Getauften zu erkennen. Die Delegation eines Mitglieds einer Konfession wird konsequent als Erfolg dieser Konfession wahrgenommen, als Markierung von Präsenz, letztlich als eine Machtdemonstration. Und das ist geradezu die Perversion einer Segensfeier. Das erinnert tatsächlich an frühere Jahrhunderte und ist für ein Glaubenszeugnis in einer modernen Schweiz unwürdig.
Unsere Berufung als Getaufte ist es nicht, Konfessionsgrenzen zu hüten gegenüber anderen Konfessionen oder Präsenz zu markieren gegenüber anderen Religionen. Unsere Berufung als Getaufte ist es, unseren Glauben zu leben. Heute. Ich freue mich, dass ich das zusammen mit der neu delegierten Pfarrerin Simona Rauch bezeugen kann. Das ist die grössere Herausforderung der Ökumene als die Aufarbeitung theologischer Fragen. Dieser Herausforderung sollten wir uns stellen. Der Gotthard-Basistunnel bewegt – hoffentlich!
Pater Martin Werlen