«Ein Geselle vom Scheitel bis zur Sohle»: Karl Rechsteiner, 93. Foto: Pia Neuenschwander

Der Junge und der Alte

23.08.2017

150 Jahre Kolping-Haus Bern - Porträt eines alten und eines jungen Bewohners

Der Junge

Adolph Kolping sah im 19. Jahrhundert das Leid der armen Handwerkergesellen, die auf ihrer Wanderung oft allein und mit wenig Geld durchkommen mussten. Er gründete Gesellenhäuser, damit diese Gesellen ein Bett und Verpflegung bekamen. Das Kolpinghaus im Berner Mattenhofquartier führt diese Tradition bis heute weiter. Einer, der dort wohnt, ist Raphael Gubler. Er ist nicht Geselle, sondern Sportstudent.

Vor zwei Jahren zog der Einsiedler Klosterschüler Raphael Gubler nach Bern. In Zürich wurde er geboren, in Einsiedeln verbrachte er seine Kindheit: «Die Eltern wollten mit uns zwei Kindern aufs Land. Ich besuchte das Langzeitgymnasium im Kloster und entschloss mich, im Anschluss Sport in Bern zu studieren.» Sein Ziel ist die Trainerausbildung in Magglingen. Er ist von Haus aus reformiert und bezeichnet sich als «nicht sehr gläubig». Das war in der Klosterschule kein Problem, lacht er: «Ich habe sogar ein Jahr lang ministriert. Mir gefielen der Gottesdienst, die Feierlichkeit und das Wohlwollen der Kirche den Menschen gegenüber. Die Gottesdienste waren für mich wie Meditation», erzählt der 22-jährige sportliche junge Mann. «Und wenn um elf Uhr eine Messe war, konnten wir die Lektion in der Schule streichen, das hatte auch seine Vorteile.» Haben frühere Gesellen über Pfarrämter und auf Vermittlung von Geistlichen in den Gesellenhäusern Aufnahme gefunden, orientierte sich Gubler im Internet unter «wgzimmer.ch», und stiess auf das Angebot des Kolpinghauses: «Es ist keine WG, wir haben kein gemeinsames Wohnzimmer, aber das Angebot stimmt, ist funktional. Preislich ist es im Angebot in der Mitte. Das Preis-/Leistungsverhältnis stimmt.»

Auf der Homepage war nirgends von Kolping die Rede: «Ich habe mich dann kundig gemacht, war etwas überrascht, aber überhaupt nicht abgeneigt. Ich habe ein gutes Verhältnis zur Kirche, sowohl zur Reformierten, als auch Katholischen.» Der Wille von Kirchenmitgliedern, sich einzusetzen, etwas Gutes zu tun, beeindruckt ihn: «An dem orientiere ich mich. Missstände gibt es in der Kirche wie im Sport. Deshalb gebe ich den Sport ja auch nicht auf.» Beziehungen zu einer reformierten Kirchgemeinde oder einer katholischen Pfarrei in Bern hat er aber nicht gesucht. Der Geist im Kolpinghaus gefällt ihm: «Jeder hat seinen Lebensrhythmus, meist am Studium ausgerichtet. Es gibt gute Begegnungen und Gespräche, wenn man sich sieht. Jeder lebt aber entsprechend seinen Bedürfnissen. Man ist frei.»

Eben sind Bad, Dusche und Küche im Haus renoviert worden: «Ich war auch mit dem alten Standard sehr zufrieden. Nun sind sie natürlich noch funktionaler und grosszügiger geworden.» Neben dem Studium arbeitet Gubler als Personal-Trainer in einer Gesundheitsinstitution. Sport ist seine Leidenschaft, die auch dem Menschen viel bringe. Adolph Kolpings Mahnung: «Die Welt und ihre Verhältnisse sind deshalb so schlecht, weil wir keine besseren Christen sind», ist wie ein Mantra auch für ihn als Sportler: «Der Mensch steht im Vordergrund. Mit anderen trainieren, dass sie ihre Ziele erreichen können, ist eine meiner Motivationen.» Auch deshalb ist ihm im Kolpinghaus wohl.

Der Alte

Als Jugendlicher in der Jungwacht, als Lehrling in der Jungmannschaft und als junger Berufsmann im Gesellenverein Kolping. Das war lange Jahre die Karriere römisch-katholischer Männer. Karl Rechsteiner, 93 Jahre alt, in Arbon aufgewachsen, kennt diese Stationen aus eigener Erfahrung.

Bei Saurer in Arbon lernte er Maschinenschlosser. Danach ging er auf Wanderschaft. Zuerst nach Stans in die Pilatuswerke, dann nach Genf in verschiedene Firmen. Später folgten Stationen in Zürich, Biel und Bern. Gewohnt hat er in diesen Jahren in den Gesellenhäusern des Kolpingvereins. Da wohnten Schreiner, Metallbauer, Schmiede, Bankiers, Schneider nahe beieinander, halfen sich gegenseitig aus und bildeten lebenslange Freundschaften: «Ganz ohne Facebook», lacht er.

Jeder Geselle erhielt ein Wanderbuch, eine Art Pass, in dem Zeugnisse und Empfehlungen eingeschrieben wurden. Damit bekamen die Gesellen Einlass in die Häuser der jeweiligen Orte. In Genf bot das von Jesuiten geführte Haus nur Dach und Bett, in Bern führten Klosterschwestern den Haushalt und sorgten für regelmässige Kost. Immer auch waren die meisten Gesellen in den katholischen Pfarreien vor Ort aktiv: «In Bern und vielen anderen Orten war es der Gesellenverein, der die Fronleichnamsprozessionen organisierte, die Altare aufbaute. Wir ministrierten, sangen im Kirchenchor, engagierten uns in den Räten.»

Katholisch geboren, gehörte Karl Rechsteiner schon in Arbon zu den Ministranten. Gerne wurde er für die Frühmessen aufgeboten: «Ich stand immer Punkt viertel vor sechs in der Sakristei. Mein Vater musste um sechs in der Früh zur Arbeit. Das half mir natürlich, pünktlich zu sein», lacht er. Das Pünktlichsein ist ihm geblieben. Deutlich wird das an einer Geschichte, die Karl Rechsteiner über seine Ausbildungszeit bei den SBB in Bern erzählt. Hier liess er sich nach seinen Wanderjahren zum Lokführer ausbilden. Einmal, so Rechsteiner, verpasste ein Kollege den Arbeitsbeginn. Karl musste einspringen. Er war immer pünktlich vor Ort: «Ein Kollege sagte mir, die Chefs hätten auch eine gute Meinung von mir. Sie hätten gesagt, der Rechsteiner beginnt um 04.20 Uhr, der sei dann sicher da, der kann den Dienst übernehmen, wir brauchen niemanden aufzubieten.» In Karl Rechsteiners Wanderbuch des Gesellenvereins heisst es in einem Zeugnisvermerk denn auch folgerichtig: «Karl Rechsteiner ist ein Geselle vom Scheitel bis zur Sohle.»

Ausserhalb von Genf gab es in den Kriegsjahren Gefangenenlager für deutsche Soldaten. «Bei uns im Gesellenhaus kamen ab und zu in der Nacht Flüchtende an, die dann eingekleidet wurden. Mitglieder unseres Vereins besorgten ihnen eine Bahnkarte, damit sie mit dem Nachtzug nach Zürich und dann nach Schaffhausen gelangen konnten. Dort versuchten sie, über die grüne Grenze nach Hause zu kommen. Wir Gesellen haben diese Flüchtlinge öfters in der Nacht zum Bahnhof begleitet.»

Zur Kirche hat der langjährige Sänger des Kirchenchors der Pfarrei Dreifaltigkeit Bern ein nach wie vor unbeschwertes Verhältnis «Wenn man ein positives Verhältnis zur Kirche hat, behält man auch ein positives Verhältnis zur Welt und zu den Menschen». Warum? Karl Rechsteiner sagt es unverblümt: «Weil man den Herrgott im Hintergrund weiss. Und deshalb auch nicht meint, alles selber machen zu müssen.» Die Unterstützung seitens des kirchlichen Personals bei seinen Spitalaufenhalten oder jetzt beim Tod seiner Frau sei sehr hilfreich und wohltuend. «Und bescheiden sind die. Bei einem Spitalaufenthalt hatte ich über 40 Grad Fieber. Pater Markus betete mit mir am Spitalbett und reichte mir die Krankensalbung. Am selben Abend war das Fieber weg. Pater Markus sagte darauf, nun, das Antibiotikum hat wohl auch seinen Teil daran gehabt.» Karl Rechsteiners Augen leuchten.

Nur – Ungerechtigkeiten hat er schlecht ertragen. In Genf verdiente er anfangs Fr. 1.25 Stundenlohn. Mit einem Stellenwechsel und Einstehen für mehr Lohn brachte er es auf Fr. 1.40. «Nicht umsonst sind viele Gesellen in Gewerkschaften tätig gewesen», ruft er in Erinnerung. Und dass seine Söhne ihn nach langen Diensten mit wenig Schlaf zu einem Schachspiel aufforderten, weil er, unaufmerksam, in Kürze seine Dame verlor, fuchst ihn noch heute. Mit väterlichem Stolz natürlich.

Mit der Heirat mussten die Männer den Gesellenverein verlassen und traten zu Alt-Kolping über. «Er krönt seine Gesellenzeit mit der Heirat», heisst es im Wanderbuch. Der heute 93-jährige Witwer freut sich über die Studenten, die jetzt im Gesellenhaus Bern wohnen wie einst er: «Ist doch sinnvoll, oder?», bemerkt er. «Das gibt Kolping neuen Wind!»

Jürg Meienberg

Weitere Informationen zur Gruppe Stubemusig Rechsteiner rund um Karl finden Sie auf stubemusig.ch