Güzin Kar (44), «Ich bin geboren und werde sterben. Soweit die Fakten. Alles dazwischen ist Verhandlungssache», heisst es auf der Website der in der Türkei geborenen Autorin, Kolumnistin und Regisseurin. Mit fünf Jahren kam sie in die Schweiz, studierte an der Filmakademie Baden- Württemberg und lebt in Zürich. Foto: Keystone
Der Messias ist Franzose
Nächste Woche erscheint die interreligiöse Zeitung «zVisite». Darumhaben wird die Filmemacherin und Kolumnistin Güzin Kar gebeten, zum interreligiösen Dialog einen Beitrag zu verfassen. Die etwas «Andere» schien uns prädestiniert dafür.
Von Güzin Kar
Ich war elf, als ich meinen Messias fand. Er war Friedensstifter, Heilsbringer und leuchtendes Vorbild in einem, und wollte ihm auf ewig folgen: Winnetou. Am Fernsehen lief der Dreiteiler, so untrennbar wie die Heilige Dreifaltigkeit, die drei Fragezeichen oder die drei Musketiere, die ich übrigens lange Zeit als Muskeltiere mit Rechtschreibfehler missdeutete. In den ersten beiden Teilen war mein Held im weissen Apachengewand durch Jugoslawien geritten, wie keiner der jugoslawischen Pfleger und Ärzte, die aufgrund Personalmangels in Schweizer Spitäler geholt worden waren, und die man nicht gern gruppenweise am Bahnhof herumstehen sah.
Aber Winnetou liess einen all dies vergessen, es ging nicht um Ausländer, sondern um Büffel. Ich setzte mich vor den Fernseher und sah mit an, wie Winnetou am Ende starb. Daraufhin weinte ich eine Woche lang bitterlich. Dass er in Wahrheit ein Franzose war und sich bester Gesundheit erfreute, wie mir meine Mutter versicherte, machte die Sache nicht erträglicher. Gut möglich, dass dieses frühe Trauma mich später zur Filmerin werden liess, denn ich schwor mir, einen unsterblichen Winnetou zu erfinden.
In den Jahren davor hatte ich mich vergeblich um eine Religion bemüht, aber ich war immer nur «andere». Sie wissen ja, das Personalienformular: katholisch, reformiert, andere. Ich kreuzte «andere» an, obwohl «keine» richtiger gewesen wäre. Zu Hause hat man mir, dem anämischen Mädchen, mehr Fleischsuppe als Glauben eingeflösst, und in der Schule war ich vom Religionsunterricht dispensiert, zu meinem Kummer, denn dort steppte der Bär. Bei den Katholiken wurde gebastelt und gehüpft, also wurde ich katholisch und liess mich von Klassenkameraden einschleusen.
Meine Mutter fand das gut, da ich nach dem Gehüpfe hungriger nach Hause kam, aber ich flog auf, weil ich keinerlei Wissen über testamentarische Ereignisse besass. «Probiers doch bei den anderen», sagte meine Mutter. Bei den Reformierten wars weniger fröhlich, man musste viel lesen und wurde dauernd abgefragt. Ich wurde ohnmächtig (wegen tiefem Blutdruck, nicht wegen der Abfragerei) und endgültig zu «andere» abgeschoben. Wie gern hätte ich bei widrigen Anlässen wie Liebeskummer, Lehrerdummheit oder Tschernobyl einen Gott angerufen und mit ihm Zwiesprache geführt. Gläubige Menschen umweht ein Hauch von seelischer Ausgeglichenheit, um den ich sie bis heute beneide, und den ich mit ihrer Fähigkeit zum inneren Dialog in Verbindung bringe. Ich selber führe manchmal halblaute Selbstgespräche, was weder Ruhe noch Ausgeglichenheit zur Folge hat, sondern besorgte Blicke der Passanten.
Doch je älter ich wurde, umso mehr wusste ich meine Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu schätzen, da ich das «andere»-Sein nicht mehr als Mangel, sondern als Freiheit auffasste. Dazu gehört auch die Freiheit, anderen ihren Glauben zu lassen, denn zuweilen besorgt mich das fanatische Atheistentum genauso wie religiöser Eifer. Da ich mich nie von einem Gott abgewendet habe, nie aus einer Kirche ausgetreten bin, muss ich mich nicht wie ein Ex-Raucher verhalten, der bei jedem Zigarettenhauch laut aufstöhnt. Die zuweilen übertriebene und groteske Regelkonformität vieler Konvertiten hingegen bewahrte mich davor, irgendwann nach Jahren doch noch Jüdin, Christin oder Muslimin zu werden.
Sicher, auch ich war und bin Mitglied diverser Gemeinschaften, sei es bei der Arbeit, bei der Eigentümerversammlung, als Feministin oder politisch interessierter Mensch, aber das unsichtbare «andere», das ich bei jedem Eintritt in eine Gruppe innerlich ankreuze, bewahrt mich hoffentlich vor Sektierertum. Denn genauso wichtig, wie sich mit Mitstreitern für eine Sache einzusetzen, ist es, die Wachheit zu bewahren, um die Widersprüche und Missstände in den eigenen Reihen zu erkennen. Und manchmal verändert sich die Welt auch ganz ohne unser Zutun, was beruhigend ist. So wird Winnetou bald neu verfilmt, mit einem hübschen, albanischen Schauspieler in der Hauptrolle. Der Messias ist also doch unsterblich.
Die interreligiöse Zeitung «zVisite» erscheint nächste Woche als Beilage im «pfarrblatt». Das Thema lautet Alter und Religion. Das «zVisite»-Team verbrachte dafür zwei Tage in der Altersresidenz Egghölzli in Bern.