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Der soziale Zaun des Bruder Klaus

29.03.2017

Josef Lang erzählt vom Brunnengleichnis des Bruder Klaus. Lesen Sie hier, was es damit auf sich hat.

Der einzige Zaun, der von Zeitgenossen des Bruder Klaus überliefert ist, stammt aus der kaum bekannten Brunnenvision. Ihre Botschaft ist eine soziale. Deren erster Erzähler ist der Einheimische Kaspar Ambüel. Er schrieb den Traum ein paar Jahre nach dem Tod des Eremiten im Jahre 1487 aus einer unbekannten Quelle ab.

Der Ausschluss der Armen

Die Vision des Niklaus von Flüe beginnt mit folgenden Worten: «Da sah er eine Menge Leute damit beschäftigt, viel Arbeit zu verrichten. Ausserdem waren sie sehr arm. Er stand da, schaute ihnen zu und verwunderte sich, dass sie so viel Arbeit hatten und doch so arm waren.» Da erblickte der Träumende einen «schön gebauten Tabernakel», zu dem «aber wenige Leute» hinaufstiegen. In diesem sah er «einen Brunnen» mit klarem Wasser. «Und er dachte bei sich selber: Du sollst hinausgehen und schauen, was die Leute tun, dass sie nicht hierhergehen, aus dem Brunnen zu schöpfen. Da sah er die Leute schwere Arbeit verrichten und dazu sehr arm sein. Er achtete darauf, was sie täten. Er sah, dass einer stand und einen Zaun mitten durch den Platz geschlagen hatte. In er Mitte hatte er ein Gatter, das hielt er mit der Hand zu und sagte zu ihnen: Ich lasse euch weder hin noch her, es sei denn, ihr gäbet mir den Pfennig.

Er sah einen stehen, der drehte den Prügel in der Hand und sagte: Es ist dafür gedacht, dass ihr mir den Pfennig gebt.» Auch andere verlangten von den Armen einen Pfennig. «Und ehe sie das alles» bezahlt hatten, «waren sie wieder so arm», dass sie nicht zum Ziel gelangten. «Und er sah niemanden hineingehen, aus dem Brunnen zu schöpfen.»

Der zweite Erzähler, der ein Zeitgenosse des Bruder Klaus war, ist der Berner Humanist und Kirchenreformer Heinrich Wölflin. Der spätere Chorherr schrieb die Vision auf im Rahmen seiner offiziellen Bruder-Klaus-Biographie. Den Auftrag dazu hatte er 1497 von der Obwaldner Regierung erhalten. Wölflin, der den Beinamen Lupulus trug, war während seiner Arbeit am Bruder-Klaus-Buch in seiner Heimatstadt als Lateinlehrer tätig. Einer seiner Schüler war ein junger Toggenburger namens Ulrich Zwingli, mit dem er auch später einen engen Kontakt pflegte. Hier dürfte einer der Gründe liegen, warum Zwingli zu einem starken Verehrer und guten Kenner des Niklaus von Flüe wurde. Wölflin selber unterstützte die Reformation, heiratete 1523 demonstrativ, hat aber die katholische Kirche bis zu seinem Tod 1534 nicht verlassen. Vielleicht ist er dieser aus Loyalität zu seinen Obwaldner Auftraggebern treu geblieben.

Wölflin-Lupulus schildert im Jahre 1501 das Schicksal der Armen in der Brunnenvision in folgenden Worten: «Die einen, die einen Zaun errichteten, liessen niemanden ohne Zollbatzen eintreten, andere, die eine Brücke über den Fluss schlugen, erpressten den Passierenden ein Brückengeld; wieder andere, die mit Flöten, Pauken und anderen Musikinstrumenten bereit standen, stimmten ihr Stück nicht an, bevor ihnen der Lohn vorausbezahlt war.» Er erkannte, «dass dies die menschliche Nichtigkeit bedeute, durch welche alle, die fast auf der ganzen Welt private und vorübergehende Vorteile suchen, von dem Besuch der vorgenannten Quelle abgehalten werden und ins Verderben gehen».

Der erste, der 1981 anlässlich des 500. Jahrestages des Stanser Verkommnisses versuchte, die Brunnenvision einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen, war der Schriftsteller Hans Rudolf Hilty. In seinem Buch «Bruder Klaus oder zwei Männer im Wald» interpretierte er den «Zaun» als «Zollschranke» auf dem Weg zum «Brunnen der Gnade». Dem fügte er bei: «Geschichtlich mag man an Ablass denken» oder «an die fortschreitende Geldmacherei bei Wallfahrtsorten». Ein «besonderer Affront» waren Niklaus von Flües Proteste gegen die «Käuflichkeit der Behörden» gewesen. Zur Brunnenvision fügte Hilty bei: «Und Klaus hatte nur noch einen Gedanken: Man müsste zu den Leuten hinaus, um ihnen klarzumachen, dass sie beschissen werden.»

Bruder Klaus im Bauernkrieg

Die «Leute», die grossmehrheitlich Bauern waren, haben den Emeriten ähnlich verstanden. Beim Grossen Bauernkrieg von 1653 hatten die Aufständischen zwei Vorbilder: den Tyrannenmörder Wilhelm Tell und den Eremiten Bruder Klaus. Die letzten Zeilen ihres «Tellenliedes» lauten: «Denkt an den Bruder Klausen / Und sprechet früh und spat: / ‹Mit Knütteln muss man lausen› / Und folget minem Rat.» Der Knüttel war die Waffe der Untertanen. Der Satz bedeutete, gegen die Läuse, die Schmarotzer im Pelz, kräftig vorzugehen. Bruder Klaus soll sich mit ähnlichen Worten gegen fremde Kriegsdienste ausgesprochen haben. Die Botschaft der Brunnenvision ist religiös und sozial. Dabei ist zu bedenken, dass es für Niklaus von Flüe keine Trennung zwischen Gottesverbundenheit und Verbindlichkeit gegenüber den Menschen gab. Wenn sich Bruder Klaus Sorgen machte über die Folgen der Reisläuferei und der aufkommenden Geldwirtschaft, ging es ihm um die Frömmigkeit und das Gemeinwohl. Die Brunnenvision handelt nicht nur von der Schwierigkeit, die Gnade zu erlangen. Sie handelt auch von der Ungerechtigkeit, dass die grosse Mehrheit von ein paar wenigen abgezockt wird.

Der nationale Zaun des Hans Salat

Liegt in dieser brisanten Botschaft der Grund, dass der soziale Zaun nie die Bekanntheit des nationalen Zauns erlangte? Die berühmte Aufforderung, den Zaun nicht zu weit zu stecken, stammt vom Innerschweizer Chronisten Hans Salat, und zwar ein halbes Jahrhundert nach dem Tod von Bruder Klaus. Der Luzerner Gerichtsschreiber war einer der wortmächtigsten Gegner der Reformation. Was er mit seiner «angeblichen Warnung» sagen wollte, hat der grosse Bruder-Klaus-Forscher Robert Durrer schon vor 99 Jahren erklärt: «Ihr erstes Auftreten bei Salat im Jahre 1537 fällt mit den Bestrebungen Genfs, in den schweizerischen Schutzkreis zu treten, und mit dem Widerstand der Katholiken, die Neuerwerbungen Berns im Waadtland als eidgenössisches Territorium zu erkennen, zeitlich zusammen.» In anderen Worten: Salat wandte sich mit seinem berühmt gewordenen Satz gegen die Stärkung der Reformation in der Eidgenossenschaft. Durrer hat seiner Einschätzung eine wichtige Aussage beigefügt: «Dass der historische Bruder Klaus einer friedlichen Expansion nicht prinzipiell abgeneigt gewesen, bewies er ja dadurch, dass er den Widerstand seiner Landsleute gegen die Aufnahme von Freiburg und Solothurn gebrochen hat. War doch gegenüber Freiburg von den Gegnern gerade die welsche Nationalität ins Feld geführt worden.» Damit macht der Stanser Historiker deutlich, dass Salats Zaun-Satz eine Schweiz ohne Romandie bedeutet.

Die Tatsache, dass das nationale Zaun-Zitat im Unterschied zum sozialen bei Bruder Klaus nicht zu finden ist, beweist nicht, dass er nie eine derartige Aussage gemacht hat. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, würde sich eher eine andere Interpretation aufdrängen. Gemäss Roland Gröbli ging es dem Ranfteremiten darum, den hergebrachten Gemeinbesitz gegen den aufkommenden Eigenbesitz zu verteidigen. Die reich gewordenen Bauern sollen die Zäune für ihr Privatland nicht zu weit in die Allmenden hinein versetzen. Gröbli leitet deshalb aus der allfälligen Warnung vor dem «zu weiten Zaun» die «Lebensregel zu mehr persönlicher und materieller Bescheidenheit zugunsten der Gemeinschaft» ab.

Brunnenvision: Gemeinnutz vor Eigennutz

In letzter Zeit ist ein weiteres Zitat in die Diskussion gelangt, das allerdings bereits vor 100 Jahren von Robert Durrer veröffentlicht worden ist. Der reichstreue Abt Johannes Trithemius hatte 1480 Bruder Klaus als Zeugen gegen die eidgenössische Kriegspolitik benützt: «Wenn ihr in euren Grenzen bleibt, so kann euch niemand überwinden, sondern ihr werdet euren Feinden zu jeder Zeit überlegen und Sieger sein. Wenn ihr aber, von Habsucht und Herrschsucht verführt, euer Regiment nach aussen zu verbreiten anfanget, wird eure Kraft nicht lange währen.» Allerdings ging es dabei in den Worten des Bruder-Klaus-Biographen Pirmin Meier «weder um die Maxime der Neutralität noch um Landesverteidigung, sondern um Zähmung der vorhandenen Aggressionen». In diesem friedenspolitischen Sinne hatte sich Niklaus von Flüe seit seinem Rückzug engagiert. Vor allem gegenüber den fremden Kriegsdiensten wurde er immer kritischer.

Damit wären wir wieder bei der Brunnenvision. Die Sozialkritik, die in dieser zum Ausdruck kommt, war auch das Hauptargument gegen das Pensionswesen: Der Eigennutz verdrängt den Gemeinnutz, das Gelddenken schwächt den Zusammenhalt. Keine Quelle des Ranfteremiten ist derart aktuell wie die Brunnenvision. Hier steht der Zaun, der uns auch heute am meisten herausfordert.

Josef Lang

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Gemeinsam zur Mitte – nationaler ökumenischer Gedenk- und Feiertag

Am Samstag, 1. April begehen die Katholische und die Evangelische Kirche in Zug gemeinsam einen nationalen ökumenischen Gedenk- und Feiertag im Rahmen der Feierlichkeiten zu 600 Jahre Niklaus von Flüe und 500 Jahre Reformation. Im Programm finden sich Referate, Gesprächsrunden, Filmvorführungen und Musik. Start ist um 09.30 im Reformierten Kirchenzentrum Zug (Bundesstr. 15). Als «Höhepunkt» bezeichnen die Veranstalter den ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Kirche St. Michael (Kirchenstrasse 17) um 16.00, mit Gottfried Locher, Präsident des Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunden und Felix Gmür, Bischof von Basel. Es wird die Kantate «Gemeinsam zur Mitte» von Erwin Mattmann uraufgeführt.

Infos: www.mehr-ranft.ch

Hinweise
Der Historiker und alt Nationalrat Josef Lang (*1954) forscht seit 20 Jahren über die Geschichte des Katholizismus seit der Aufklärungszeit. Er veröffentlichte im Sammelband «Mystiker Mittler Mensch. 600 Jahre Niklaus von Flüe», TVZ Theologischer Verlag 2016), den Beitrag: «Bruder Klaus und ‹seine› drei Zäune». Am 1. April hält er in Zug anlässlich der von den beiden Landeskirchen mitgetragenen Veranstaltung (siehe Hinweis rechts) das Referat: «Nimm alles von mir, was mich hindert zu dir» – Was Bruder Klaus und die Reformation verbindet.