Der Umg angm itden Überg ängen
Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern. Von Thomas Wild.
Wir wissen es noch nicht: Ist die Coronakrise am Abflauen? Oder einfach entdramatisierte Gegenwart? Und in Bezug auf die Zukunft vielleicht erst der «Primo Piatto»? Deutlich ist hingegen: Die Coronakrise kann als Seismograf gesehen werden, der anzeigt, worin die gesellschaftlichen Probleme, aber auch gewisse Lösungsansätze derzeit bestehen. Zum Beispiel die Balance von Freiheit und Verantwortung: Die vielen individuellen Freiheiten wie Reisen und grenzenloser Konsum, die zumindest in unseren Breitengraden vorhanden sind, verpflichten auch zu einer sozialen Verantwortlichkeit. Wir sind gefragt, einige Freiheiten und Selbstverständlichkeiten einzuschränken, um anderen die dringend nötigen Lebensräume zu gewähren und die Kumulation von Benachteiligungen nicht weiter zu vergrössern.
Wenn wir an das Aufrechnen von ökonomischen Kosten gegenu?ber gesellschaftlichem Nutzen oder an die ethischen Fragen denken, sind die seelsorglichen Herausforderungen im Inselspital relativ gering gewesen. Gleichzeitig hat sich in unseren Begleitungen etwas von den grossen Ambivalenzen abgebildet. So wurden wir mit der Spannung zwischen dem Schutz des individuellen biologischen Lebens und dem Schutz des familiären, sozialen Lebens konfrontiert. Beides ist Leben. Und das eine ist ohne das andere nicht wirklich denkbar. In vielen Gesprächen wurde sichtbar: Krisen lösen Ängste, Ungewissheiten und Unwägbarkeiten aus. Und globale Krisen treffen auf persönliche Kontexte. Das persönliche Umfeld und der Lebensstil tragen dazu bei, wie wir auf eine Pandemie reagieren. Wer zum Beispiel in der Freizeit vom Ausgang und von Kontakten zu «Peergroups» lebt, hatte es ungleich schwerer als jemand, der die Ruhe und den Ru?ckzug in die Natur sucht. Nicht allen gelingt es gleich gut, die Einstellung zu den Umständen zu ändern, wenn man die Umstände nicht ändern kann.
Wir haben vermutlich alle Anteile in uns, die in Übergangssituationen zuru?ck zum Vertrauten möchten, obwohl wir wissen, dass einiges nicht gut ist. Und Anteile, die das Neue zwar wollen, aber auch die Angst davor kennen. Wonach sollen wir uns richten in einer Gesellschaft, deren höchster Glaubensartikel die persönliche Freiheit und der freie Wille sind? Ich erhoffe mir eine vertiefte Empfindung fu?r die Zerbrechlichkeit alles Lebendigen. Mein eigener Abgang nach knapp elf Jahren als Inselspital-Seelsorger fu?hrt mir noch etwas vor Augen: Ru?ckblickend bin ich dankbar fu?r die Ängste, Ungewissheiten und Unwägbarkeiten, die zu solchen Veränderungen gehören – wie die Nacht zum Tag, die Krisen zum Leben und die Pausen zur Musik.
Pfr. Thomas Wild
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