Larry Siedentop «Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt.» Überraschende Antworten auf zentrale Fragen der abendländischen Identität. Klett-Cotta 2016, 495 Seiten, Fr. 39.90
Der Wert des Säkularen
Der Historiker Larry Siedentop wagt in seinem Buch «Die Erfindung des Individuums» eine Art Coming-out der christlichen Entwicklungsgeschichte.
Auch wenn die westliche Kirche zu grossen Teilen selber schuld ist am gegenwärtigen Kirchenbashing, mag man dem distanzlosen, undifferenzierten Niedermachen kirchlicher Strukturen und Neuaufbrüche in der Seelsorge ohne jegliches Geschichtsbewusstsein oft nicht mehr zuhören. Ein neues Buch schafft Abhilfe.
Missbrauchsskandal, Reformblockaden oder Prunkbischöfe sind die Stichworte, die zeigen, warum die Kirche am Bashing selber schuld ist. Ab und zu führt diese Erkenntnis dazu, dass man auch als Kirchenmitglied das Kind mit dem Bade ausschüttet und vom ganzen Kirchenladen nichts mehr wissen will und schon gar nichts mehr erwartet. Das Altgewohnte hat seine Glaubwürdigkeit verloren, das Neue bahnt sich wenig profiliert erst an.
Wer dieser Stimmung schon begegnet ist und seine christlichen Wurzeln nicht mehr recht spürt, dem hilft Larry Siedentop wieder auf die Beine. Siedentop, ein Historiker, wagt in seinem Buch «Die Erfindung des Individuums» eine Art Comingout der christlichen Entwicklungsgeschichte jenseits von Ideologie und plumper Religiosität. Er macht das so überzeugend, dass man nach der Lektüre – die einem allerdings schon etwas abfordert – erstaunt aufschnauft und, ja, einen gewissen Stolz über den christlichen Gedanken in der Geschichte empfindet. Auch und gerade deshalb, weil Siedentop das Christliche nicht in die Kirche und ihre Enge zurückführt, sondern mitten in den Diskurs mit der modernen Welt begleitet.
Mit Akribie und doch grosszügiger Überschau, ohne aber weitschweifig zu werden, zeigt Siedentop auf, wie der Apostel Paulus mit seinem Gedanken von menschlicher Freiheit und Würde die westliche Welt veränderte. Langsam, aber stet hat sein Begriff, dass jeder Mensch, unabhängig von Religion, Stand, Geschlecht und Nationalität, vor Gott als Person seine volle Würde besitzt, Gesetze, Verhalten und Staaten umgestaltet. In seinen sogenannten «Haustafeln» stellte Paulus die Frauen zwar unter den Mann und den Knecht unter den Herrn. Die Angleichung an die damalige römische Staatsmacht sollte dem christlichen Gedanken das Überleben in schwierigem Umfeld sichern. Man verzeiht ihm nach der Lektüre des Buches diesen Kniff glatt. Denn – wie der Hefeteig das Brot durchdringt, wirken die revolutionären paulinischen Ideen von der Würde des Individuums und seiner Egalität durch die Jahrhunderte. Ein Beispiel sei herausgegriffen.
In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, so Siedentop, legte sich Europa auf Drängen der Kirche eine moralische Identität zu. Drei Entwicklungen von damals waren auf je unterschiedliche Art mit einer «frühen Friedensbewegung » verknüpft. Die erste, schreibt Siedentop, «war eine neue, idealisierte Auffassung von der Beziehung der Geschlechter», nämlich über das damals entstehende «Minnewesen»: «Dargestellt wurde die Liebe als romantisches Erleben statt als rein fleischliches Geschehen.»
Als zweite Entwicklung führt Siedentop den Versuch an, einen Verhaltenskodex für Ritter einzuführen, der sich an «Höflichkeit und Ehre» orientierte «statt an Gewalt und Brutalität». Ritter sollten sich von bewaffneten Raufbolden zu den Beschützern von Schwachen und Unglücklichen wandeln. Die dritte Entwicklung ortet Siedentop an einer neuen «Ausrichtung auf die persönliche Identität, da der Papst die Völker Europas als Christen ansprach». Dass die Kirche immer Schwierigkeiten hatte, «wirklichen Nutzen» aus den eigenen Erkenntnissen zu ziehen, zeigt, dass mit der dritten Entwicklung das Grauen der Kreuzzüge mitgetragen wurde. Als Motivationspunkt in allen drei Entwicklungen bezeichnet Siedentop die «alleinseligmachende Beziehung zwischen Gott und der individuellen Seele», die vom Klerus damals gelehrt wurde.
Und so geht es weiter durch die Geschichte. Von der Auseinandersetzung zwischen Dominikanern und Franziskanern über die Eigentumsrechte und die Stellung von Armut im Christentum bis hin zur Aufklärung und das Verfassen der Menschenrechte – der christliche Begriff von individueller Freiheit und Gleichwertigkeit allerMenschen spielte die Rolle der Hefe in gesellschaftlichen Entwicklungen. Genial nun, dass Siedentop die aktuelle Weiterentwicklung dieses Gedankens nicht nur in der Kirche, sondern deutlicher in der Welt findet. Allerdings schreibt er: «Doch die Idee, dass Liberalismus und Säkularismus religiöse Wurzeln haben, hat sich keineswegs durchgesetzt.» Er spricht gar drastisch von einem «Bürgerkrieg», «ein Krieg, in dem religiöser Glaube und ‹gottloser› Säkularismus als unversöhnliche Gegensätze begriffen werden».
Die Zukunft der Kirche liegt deshalb nicht nur im Sakralen. Sie liegt auch und besonders im Säkularen. Sie täte gut daran, diesen Gegensatz aufzuheben und den Wert ihrer Entwicklung auch im Säkularen zu suchen und zu einem echten Dialogpartner mit der Moderne zu werden. Das hat die römischkatholische Kirche im Zuge der letzten grossen Reformbewegungen Vatikanum II. und Synode 72 eigentlich eingefordert, stand sich aber in den letzten 60 Jahren, wie erwähnt, selber vielfach im Weg.
Und Siedentop mahnt an: «Wenn die Europäer den ‹Säkularismus› genau so verstehen wie ihre Kritiker – als Konsumismus, Materialismus und Amoral , verlieren sie den Kontakt zu ihren eigenen moralischen Überzeugungen. Sie vergessen, warum sie so viel Wert auf die Freiheit legen.»
Jürg Meienberg