Josef Lang. Foto: Regula Pfeifer

«Die Kirche wäre freier, lebendiger, weiblicher»

20.07.2020

Ohne den Beschluss der päpstlichen Unfehlbarkeit vor 150 Jahren gäbe es wohl keinen Pflichtzölibat.

Vor 150 Jahren hat Papst Pius IX. die päpstliche Unfehlbarkeit beschlossen. Der Historiker Josef Lang* ist überzeugt: Ohne diesen Machtanspruch gäbe es keinen Pflichtzölibat. Und Frauen könnten Priesterinnen werden. 

Raphael Rauch, kath.ch

Wie wäre die katholische Kirche in der Schweiz ohne die päpstliche Unfehlbarkeit?

Josef Lang: Könnten die Schweizer Katholikinnen und Katholiken selber entscheiden, hätten sie das Unfehlbarkeits-Dogma sowie den Zwangszölibat schon vor Jahren abgeschafft und Frauen zum Priesteramt zugelassen. Zwischen Unfehlbarkeit und Ausgrenzung der Frauen gibt es einen engen Zusammenhang.

Welchen?

Der Fehlentscheid der Unfehlbarkeit hat das priesterliche Amtscharisma überhöht. Das führte zu einer Verschärfung des Zwangszölibats und der Geschlechtertrennung. Hans Küng spricht von einer «Unfehlbarkeitsideologie» und meint damit eine unheimliche Reformbremse und Denksperre. Ohne Unfehlbarkeits-Dogma wäre die Kirche freier, lebendiger, weiblicher.

Welche Folgen der päpstlichen Unfehlbarkeit sind heute noch in der Schweiz spürbar?

Die laiendemokratischen Strukturen, wie ich die Kirchgemeinden, Synoden und Landeskirchen nenne, sind vielerorts eine Reaktion auf die Unfehlbarkeitserklärung. Denn nicht nur die Macht des Papstes, sondern auch die des Klerus wurde gestärkt. Dagegen wehrten sich Liberale und Gemässigt-Konservative. Sie haben Laien-Strukturen aufgebaut. Dabei hatten sie ein Vorbild in der Innerschweiz, wo es diese Art von innerkirchlicher Gegenmacht schon seit Jahrhunderten gab.

Trotz der Hierarchisierung des Papstamtes kam es zu einer Dezentralisierung der Macht?

Unter der klerikalen Hierarchisierung und zum Schutz gegen diese kam es zur Bildung von Kirchgemeinden und Landeskirchen. Wenn konservative Kreise heute behaupten, die staatskirchlichen Parallel-Strukturen seien protestantische Erfindungen, liegen sie völlig falsch. Gerade weil in vielen Innerschweizer Gemeinden die Gläubigen die Pfarrer wählten, ihnen ein Pflichtenheft vorlegten, ihre Wohnsitzpflicht durchsetzten und das Pfründenwesen verboten, hatte die Reformation, die genau das forderte, keine Chance.

Die päpstliche Unfehlbarkeit hatte damals wie heute starke Kritiker. Welche Motive hatten Katholiken um 1870, die Idee der Unfehlbarkeit zu begrüssen?

Die starken Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft, die gesteigerte geographische und soziale Mobilität, all die neuen Unübersichtlichkeiten haben viele Menschen verunsichert. Das steigert die gefährliche Neigung, einer absoluten Autorität zu folgen. Allerdings haben 1874 gegen 40 Prozent der Katholiken einer Bundesverfassung zugestimmt, die dem antiliberalen Geist der Unfehlbarkeit völlig widersprach.

Wer gehörte kirchlich zu den Gewinnern der Unfehlbarkeit?

Die harten Konservativen. So wurden in Obwalden die bisherigen gemässigten Geistlichen im Pfarrkapitel entmachtet und durch ultramontan-papsttreue Junge ersetzt. Eine Folge war, dass derselbe Kanton, der 1866 als einziger in der Zentralschweiz die Niederlassungsfreiheit der Juden bejaht hatte, 1872 und 1874 gegen deren Glaubensfreiheit stimmte. Der Klerus hatte einen grossen Einfluss – sowohl in den Stammlanden als auch in der damals wachsenden Diaspora.

Und wer zu den Verlierern?

Die liberalen und freisinnigen Kräfte. Einige gründeten dann die Christkatholische Kirche, die allerdings sehr minderheitlich blieb.

«Die Zeit zwischen 1865 und 1965 war papsthörig» 

Auf Rom lässt sich leicht schimpfen. Wann war die Schweiz besonders papstfreundlich?

Die hundert Jahre zwischen 1865 und 1965 sind die papsthörigsten in der ganzen Schweizer Geschichte. Diese Anhänglichkeit an Rom wurde nach dem Zweiten Weltkrieg noch auffälliger: Andere katholische Länder und Parteien, die den Zweiten Weltkrieg erlitten hatten, wagten Aufbrüche und gingen zum Vatikan auf Distanz. Es ist kein Zufall, dass der politische Katholizismus der Schweiz – abgesehen von Liechtenstein – der letzte war, der den Namen von Konservativ auf Christdemokratisch änderte.

Wann kippte die Stimmung in der Schweiz?

Zwischen 1965 und 1975. Noch 1963 gab es in der Schweiz einen heftigen Aufstand gegen die Aufführung des Theaterstücks «Der Stellvertreter», in dem Rolf Hochhuth das Schweigen von Papst Pius XI. zur Shoa thematisierte. Kirchliche und konservative Kreise verlangten das Verbot des Dramas, der Kanton Zug verweigerte dem Autor die Aufenthaltsbewilligung. In Basel gab es drei Bombendrohungen: gegen das Theater, die Freimaurerloge und die Synagoge. Als neun Jahre später viele Katholikinnen und Katholiken wieder auf die Strasse gingen, demonstrierten sie gegen den Vatikan. Ihr Protest galt dem Lehrverbot für den Freiburger Moraltheologen Stephan Pfürtner, der die Enzyklika «Humanae Vitae» kritisiert hatte.

Zu den heissen Eisen heute gehört die Frauenfrage.

Als die katholische Feministin Gertrud Heinzelmann 1962 ihre weltberühmte Konzilseingabe für das Frauenpriestertum machte, reagierte Rom abwehrend, aber anständig. Im damals höchst intoleranten Schweizer Katholizismus hingegen wurde die Frau richtig fertig gemacht. So stand im katholischen Aargauer Volksblatt der Satz: «Heinzelmännchen findet es ungerecht, selber kein Mann zu sein.» Zehn Jahre später war Gertrud Heinzelmann ein gefeierter Gast der Synode 72 in Chur.

Hans Küng und seine Papst-Kritik haben dazu beigetragen, dass die katholische Kirche in der Schweiz international als relativ liberal wahrgenommen wird. Die Realität vor Ort sieht anders aus – auch ausserhalb des Bistums Chur gibt es konservative Kräfte.

Ich glaube nicht, dass die konservativen Kräfte stärker geworden sind. Ich halte den reaktionären Kern innerhalb des Protestantismus für stärker als den innerhalb des Katholizismus. Das Problem ist die schwächer gewordene Reform-Dynamik innerhalb der Kirche. Papst Franziskus ist sozial und ökologisch fortschrittlich. Er macht beim Zwangszölibat und Frauenpriestertum aber nicht vorwärts. Das hat eine lähmende Wirkung, vor allem unter Frauen. Die Zahl der katholischen Feministinnen ist nicht kleiner geworden, aber viele ziehen es vor, ihre Energien in die allgemeine Frauenbewegung statt in eine geschlechterpolitisch blockierte Institution zu investieren.

 


Konsequenzen für die politische Schweiz

Am 18. Juli 1870 hat Papst Pius IX. die Idee der päpstlichen Unfehlbarkeit verkündet. Das hat den Kulturkampf in der Schweiz angeheizt – und die Bundesverfassung von 1874 mit ermöglicht, sagt der Historiker Josef Lang. Politisch profitiert haben die Freisinnigen. «Die Dogmatisierung der Unfehlbarkeit mobilisierte ihre Gefolgschaft. Für die gemässigten Liberalen um Alfred Escher war sie ein Schock. Sie neutralisierte die konservativen Protestanten. Die neue Bundesverfassung von 1874 kam bei einer Beteiligung von 82 Prozent der Schweizer Männer auf 63 Prozent Ja-Stimmen», sagt Lang. Verlierer seien die Konservativen gewesen. «Sie versuchten dann Jahrzehnte später – gemeinsam mit rechtsextremen Fronten – die fortschrittliche Bundesverfassung durch eine korporatistisch-antiliberale zu ersetzen. Sie kamen aber 1935 schweizweit bloss auf 28 Prozent. Ja-Mehrheiten gab es nur im Wallis, in Freiburg, Appenzell-Innerrhoden und Obwalden.» (rr)
 


* Josef Lang ist Historiker und Altnationalrat der Grünen. Im Mai 2020 erschien von ihm «Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart» im Hier und Jetzt-Verlag. 335 Seiten, 39 Franken.