«Einander ins Gesicht zu schauen, ist ein Zeichen von Wertschätzung», sagt Matthias Neufeld, hier am Tisch im Beichtzimmer. Foto: Pia Neuenschwander

«Die Kraft, die Sünden vergibt, ist in uns drin»

08.01.2024

Matthias Neufeld erklärt das Sakrament der Beichte

«Im Beichtstuhl» heisst die neue Jahresserie des «pfarrblatt». In jeder Ausgabe befragen wir jemanden zu Schuld und Vergebung. Doch was bedeutet das Sakrament der Beichte tatsächlich? Und warum ist es aus der Mode gekommen? Der Priester Matthias Neufeld* erklärt.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Warum kommen Menschen heute noch zur Beichte?

Matthias Neufeld: Ich denke, sie möchten ihr Leben vor Gott zum Ausdruck bringen. Denn zur Beichte gehört der Glaube an die Beziehung Gottes zu unserem Leben. Die Beichte kann eine Hilfe sein bei der Frage: Wie verläuft mein Leben? Möchte ich einen Zuspruch haben?

Worum geht es denn in der Beichte?

Die Beichte ist ein Sakrament, da geschieht die Begegnung mit Jesus Christus. Zentrales Element der Beichte ist das Bekenntnis der Sünden: Der oder die Beichtende erkennt, dass im Leben etwas nicht gut ist, und bringt das dann vor Gott. Ziel der Beichte ist die Sündenvergebung durch Gott.

Der Begriff Sünde ist vielen Menschen nicht mehr geläufig. Was bedeutet er?

Sünde bedeutet, Gott nicht mehr am eigenen Leben beteiligen zu wollen. Ein gläubiger Mensch geht davon aus, dass Gott ein Gewinn für das Leben ist. So gesehen ist die Abwendung von Gott eine Einbusse an Gottes Liebe oder Barmherzigkeit.

Früher hat die Kirche oft in einer Art und Weise von Sünde gesprochen, die die Menschen nach unten zog, sodass sie sich schlecht und unwürdig fühlten. Entsprechend erfuhren sie die Beichte mehr als Befreiung von ihren Unzulänglichkeiten. Dabei meint sie das grosse Geschenk, mit Gott Vergebung feiern zu dürfen.

Mit Feier verbinde ich etwas Schönes, Festliches. Findet das auch seinen Ausdruck in der Beichte?

Es ist wichtig, das erfahrbar zu machen. Heute wird kaum noch in klassischen Beichtstühlen mit Vorhang und Gitter gebeichtet. Man versucht vielmehr, eine geschmackvollere Umgebung zu gestalten. Wer beichtet, soll sich willkommen und empfangen fühlen. Das Gespräch findet oft an einem Tisch statt, auf dem ein Kerze angezündet wird. Man sitzt sich gegenüber, denn einander ins Gesicht zu schauen, ist ein Zeichen von Wertschätzung. Zur Feierlichkeit des Rituals gehört auch, dass man sich etwas mehr Zeit nimmt als nur die wenigen Minuten, die eine Beichte früher dauerte.

Das klingt sehr positiv. Warum ist dieses Sakrament dennoch aus der Mode geraten?

Über Jahre hinweg wurde das Beichten als eine Last empfunden. Das begann bei den Kindern, die vor der Erstkommunion die Beichte ablegen mussten. Etwas zu müssen, das man nicht wirklich aus freiem Herzen tun möchte, ist wenig attraktiv.

Zudem wurde die Beichte wohl auch instrumentalisiert, um das Leben und die Verhaltensweisen der Menschen zu kontrollieren. In der Beichte wurde darauf geachtet, dass die katholische Lebensweise gerade in Fragen von Familie, Ehe und Sexualität so gelebt wurde, wie es kirchlich vorgesehen ist.

Ist das heute nicht mehr so?

Nein, ich hoffe nicht. Wenn es so wäre, müsste der Beichthörende selber mit sich ins Reine kommen. Hier hat schon vor Jahrzehnten ein Umdenken stattgefunden. Heute haben Seelsorgende ein grosses Verständnis dafür, dass die Menschen mit ihrer Freiheit auch ihre Autonomie wahrnehmen. Sie hören durchaus gerne einen Rat, aber grundsätzlich entscheiden sie selber, wie sie leben möchten.

Wenn ich an anderen Menschen schuldig geworden bin und sie mir in einem Gespräch verzeihen, braucht es dann die Lossprechung durch den Priester überhaupt?

Natürlich ist es der ideale Weg, sich direkt von Mensch zu Mensch zu versöhnen. Beim Beichtgespräch geht es um die Vergebung durch Gott. Ob jemand nach einer zwischenmenschlichen Versöhnung auch noch die Absolution als Zusage der Vergebung Gottes wünscht oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung. 

Wie gehen Sie mit den Schuldbekenntnissen um, die Sie hören?

Ich bin Teil eines Rituals. Das Ritual wird von den Menschen durchgeführt, die kommen. Der Mensch steht im Beichtgespräch selber vor Gott. Die Kraft, die die Sünden vergibt, ist im Menschen selber drin durch die Reue. Ich eröffne dieses Ritual und schliesse es mit der Absolution ab und damit ist es auch für mich abgeschlossen.

Was machen Sie, wenn Sie etwas hören, das strafrelevant ist?

Es gehört zur Beichte, dass die Person, die ihre Schuld bekennt, diese auch wieder in Ordnung bringt, zum Beispiel durch eine Selbstanzeige. Das Beichtgeheimnis ist sehr strikt. Wenn ich in so einem Fall Anzeige erstattete, würde ich sofort suspendiert.

Aber das kann einen Priester in Gewissensnot bringen.

Das kann so sein und war auch Thema mancher Filme: Der Priester, der etwas erfährt, und in Not gerät, weil er nichts sagen darf. Ich habe das noch nie erlebt und glaube, das sind sehr seltene Fälle. Aber was hat jemand von einer Beichte, die nicht ehrlich und auf Wiedergutmachung aus ist. Es wäre absurd. Die Reue ist nur vorgetäuscht und eine Lossprechung ohne Bedeutung.

Im Zusammenhang mit Missbrauch stellen sich solche Fragen.

Das ist tatsächlich schwierig. Grundsätzlich würde ich sagen: Einfach nur die Absolution bekommen, um weiterzumachen, das ist nicht der Sinn des Beichtgesprächs. Jemand der sagt: «Ich komme in ein solches Gespräch, weil Gott eine Beziehung zu meinem Leben hat», hat auch die Motivation, diese Situation zu verändern.

Welche alternativen Formen gibt es, um mit Schuld umzugehen und Versöhnung zu erfahren?

Heute geht man mit Kindern im Religionsunterricht auf einen Versöhnungsweg. Hier geht es darum, dass sie sprachfähig werden, um über Dinge zu reden, die in ihrem Leben gut oder nicht gut verlaufen. Sie lernen, sich mit jemandem darüber zu unterhalten, der den Weg begleitet – eine Vertrauensperson ihrer Wahl oder ein:e Pfarreiseelsorger:in.

Gibt es auch Versöhnungsfeiern für Erwachsene?

Ja, in den Versöhnungsfeiern rücken die Gemeinschaft der Glaubenden oder aktuelle Themen der Gesellschaft in den Vordergrund. Früher wurde auch hier die Absolutionsformel gesprochen, heute formuliert man diese eher als Bitte. Denn die Absolution setzt das persönliche Bekenntnis voraus.

Ich finde Versöhnungsfeiern eine spannende Sache: sich Zeit zu nehmen, um sich beispielsweise zu fragen: Wie gehe ich mit dem Klimawandel um? Welche Gedanken löst das Thema bei mir aus?  Das Thema zur Entfaltung kommen lassen, ohne es gleich mit anderen Leuten diskutieren zu müssen.


* Matthias Neufeld ist Leitender Priester im Pastoralraum Bern Oberland.


Die Serie «Im Beichtstuhl» im Überblick