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Die Krux mit der wahren Religion
«Carte blanche» für Jasmin El-Sonbati
Aufruhr im nördlichen Nachbarland, der deutsche Verfassungsschutz und CSU-Politiker schlagen Alarm. Grund dazu liefert die in Fussgängerzonen mehrerer deutscher Grossstädte grossspurig angelegte Gratisverteilung des Korans, initiiert vom nicht unabsolutistisch daherkommenden Verein «Die wahre Religion» des palästinensischstämmigen Salafisten Abu Nagie. Die Gruppe hat es sich zum Ziel gemacht, Gemeinsamkeiten der drei semitischen Religionen aufzuzeigen und nebenbei den Koran zu verschenken. Schliesslich sei die Verbreitung des Korans die Pflicht eines jeden Muslims (Frauen sind explizit ausgenommen). Deutsche und Schweizer - Letztere können sich die erbauliche Lektüre über diewahrereligion.ch portofrei ins Haus schicken lassen -, sollen die Gelegenheit erhalten, sich eine eigenständige, nicht durch Medienhetze verfälschte Meinung über den Islam zu bilden. Löblich. So weit der umstrittene Sachverhalt. Wieso also der Tumult? Rein rechtlich gesehen, liegt keine Gesetzesübertretung vor: Zeitig wurde das Behördenplacet eingeholt, Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes garantiert, wie in einer Demokratie üblich, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die ungestörte Religionsausübung. Dennoch bietet die umstrittene Korandivulgierung Gelegenheit zu einigen kritischen Anmerkungen. Das imperative «Lies!», in Riesenlettern auf den Werbeplakaten abgedruckt, stellt dem potenziellen Beschenkten anheim, was er (gefälligst) zu tun hat. Es ist ein Zitat, als solches nicht gekennzeichnet, aus der Sure 96, «Der Embryo», die erste Offenbarung an den Propheten Mohammed überhaupt, herabgesandt von Gott durch den Erzengel Gabriel in der Nacht vom 26 auf den 27. Ramadan im Jahre 610 auf dem Hügel Hira oberhalb Mekkas. Durch die Referenz auf den Offenbarungskontext könnte man geneigt sein, den Die-wahre-Religion-Verbreitern zu unterstellen, den gewöhnlichen Nichtmuslim, aber vielleicht Hinkünftigen, auf die gleiche Ebene mit dem Propheten zu stellen. Was schon anmassend wäre, oder? Gerade Salafisten reagieren äusserst heikel auf die klitzekleinste Textverfälschung. Angesichts einer Aufmache, die eine Rhetorik der Überlegenheit aufnimmt, ist es zudem fraglich, ob sich autonom denkende Frauen und Männer durch diese Aktion für den Islam interessieren. Der Koran ist eine komplexe Lektüre, die sich ohne profunde historische Kenntnisse, zumal in der Übersetzung, nicht ernsthaft erschliessen lässt. Islamreformerinnen und -reformer auch in islamischen Ländern setzen sich für eine Lesart ein, die mit wissenschaftlichen Methoden die Quellen interpretiert und eine Übertragung der Prinzipien ins 21. Jahrhundert ermöglicht. Doch gerade das ist ketzerische Hinzufügung für die Salafisten. Sie predigen einen weltfremden, buchstabentreuen Islam, ob er nun Sinn macht oder nicht. Sie schauen in ein imaginäres Gestern, das sie ins Heute katapultieren und recht unversöhnlich durchsetzen wollen. Es mag sein, dass der Erfolg der Salafisten in Tunesien und v.a. Ägypten den hiesigen Brüdern Aufwind verschafft hat. Allah möge uns davor schützen, diesen Islam in Deutschland und in der Schweiz bekannter zu machen. Denn dann haben wir sie, die Krux mit der «wahren Religion»!
Jasmin El-Sonbati, Tochter einer Österreicherin und eines Ägypters, geboren in Wien, aufgewachsen in Kairo. Gymnasiallehrerin in Basel, Mitbegründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Autorenportraits