Süsse Versuchung in der Fastenzeit... Foto: marshi / photocase.de

Die Kunst der Versuchung

01.03.2017

Besonders während der Fastenzeit geraten wir öfters mal in Versuchung. Was ist das eigentlich, diese Lust nach «mehr»?

Gedanken zum Sonntag, 5. März – 1. Fasten­sonntag (Matthäusevangelium, Kapitel 4, Ver­se 1–11): «Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel in Versuchung geführt werden. Als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, be­kam er Hunger. Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heisst es: Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt. (...)»

Von Thomas Wallimann*

Die Fasnacht ist vorbei – und so auch die Zeit der Versuchungen. Doch was ist Versuchung wirklich? Sie kommt ja auch im «Vater unser» vor, und eine Freundin pflegt dort jeweils zu beten: «Führe uns in die Versuchung – und er­löse uns von dem Bösen.» Was könnte sie da­mit meinen?

Zwischen Fasnacht und Fastenzeit herrscht ganz ähnlich wie im Evangelium zum ersten Fastensonntag eine Spannung zwischen Satan und Gott. Im Zentrum dieser Spannung steht der Mensch, Jesus. Er wird mit drei grundle­genden Spannungen, die unser menschliches Leben ausmachen, konfrontiert: der Span­nung zwischen Hunger und Sattheit; zwischen dem Leben und seiner Begrenztheit, die wir am stärksten im Umgang mit dem Tod erfah­ren; und zwischen dem Reiz nach (immer mehr) Reichtum und Machtfülle auf der einen und dem «Genug» auf der anderen Seite. Mei­ne Freundin meint, dass wir Menschen uns im­mer mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen und somit inmitten einer dieser Span­nungen befinden. Würden wir sie einfach auf­lösen, wären wir keine Menschen.

Mit Blick auf das heutige Evangelium besteht die Herausforderung darin, wie wir innerhalb dieser Spannungsfelder in unserem Leben re­agieren. Oft suchen wir nach Auflösung der Spannungen, aber Jesus zeigt uns einen ande­ren Weg: Er nimmt die angesprochene Sehn­sucht wahr und benennt den andern Pol. So macht er die eigentliche Spannung sichtbar. Erst so findet Jesus das rechte Mass für die Spannungen in seinem Leben.

Endliche Enttäuschungen müssen wir akzeptieren, nie aber die unendliche Hoffnung verlieren!
Martin Luther King in «Strength to Love»

In vielen Gesprächen von der politischen Situ­ation in den USA über die Auseinanderset­zung rund um den zunehmenden Nationalis­mus bis zu persönlichen Situationen in Familie oder Arbeitsplatz nehme ich solche Spannun­gen wahr, und höre den Bedarf nach deren Auflösung. Hier lädt uns die Fastenzeit zu et­was anderem ein. «In die Versuchung geführt werden» heisst Sehnsucht und Verlangen wahrnehmen, diese und den Gegenpol beim Namen nennen und darin schliesslich das rich­tige Mass an Spannung für unser Leben fin­den.

Gott oder Glaube sind nicht Magie, die Span­nungen einfach zum Verschwinden bringt, sondern die Einladung, auf der Suche zu blei­ben.

* Thomas Wallimann-Sasaki ist Theologe und Sozi­alethiker. Er ist Präsident a.i. der Nationalkommissi­on Justitia et Pax der Schweizer Bischofskonferenz.


Bischöfliche Kommission Justitia et Pax