Die farbigste aller Jahreszeiten: der Herbst. Foto: iStock
Die Lektion der Maus Frederick
Mit seinen Farbwundern beglückt uns der Herbst. Wir spüren angesichts des nahenden Winters, was uns Farben bedeuten. Aber was ist mit der Maus? Davon später.
Beatrice Eichmann-Leutenegger
Fände unter den Jahreszeiten ein Wettbewerb statt, der den grössten Farbkünstler kürt, so trüge der Herbst den Sieg davon. Die Natur bietet noch einmal all ihren bunten Zauber auf, um uns zu betören, bevor der Winter mit seiner Dunkelheit einbricht. Wir geraten ins Schwärmen, wenn wir durch die goldenen Lärchenwälder des Engadins streifen! «Que c’est beau!», ruft die alte Dame entzückt, der ich in den Englischen Anlagen der Stadt Bern begegne.
Vom Indian Summer Nordamerikas träumen manche Europäer:innen; dabei birgt der alte Kontinent farbprächtige Herbstlandschaften wie das Piemont mit dem Städtchen Alba und den Rebhängen, sodass die Autorin des Reiseführers jubiliert: «… wenn die Natur sich goldgelb und rostrot färbt und sich ab und zu in zarte Nebelschleier hüllt – dann ist Alba-Zeit.»
Die Wirkung der Nebelhüllen empfand schon ein sensibler Dichter wie Eduard Mörike (1804– 1875), der württembergische Theologe, der sich von Vikariat zu Vikariat durchrang, sich aber bereits mit knapp vierzig Jahren aus Gesundheitsgründen in den Ruhestand versetzen liess. 1838 gab er eine Sammlung seiner Gedichte heraus, unter ihnen das poetische Juwel «Septembermorgen», das 1937 vom Schwyzer Komponisten Othmar Schoeck (1886–1957) vertont worden ist. Es wirkt in seiner Knappheit dicht und einprägsam:
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fliessen.
Nicht die heftigen Farben schmeicheln Mörikes Empfindsamkeit, sondern die feinen Töne, die unter den Schleiern zu ahnen sind, bis sie sich «herbstkräftig» offenbaren. In leisem Wandel befindet sich die Natur, die sich Mörikes Augen zeigt. Noch einmal entfaltet sie ihren Reichtum, lässt ihn geradezu verschwenderisch «in warmem Golde fliessen».
Dahinter jedoch wartet der Abschied von solcher Pracht. Unschwer bezieht der Mensch diesen Naturvorgang auf sein eigenes Leben, sodass sich Melancholie einschleicht. «Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben …», mahnt Rainer Maria Rilke (1875–1926) im Gedicht «Herbsttag», das sich mit zwei weiteren Herbstgedichten in seinem «Buch der Bilder» befindet. Entstanden sind sie in Paris, im September 1902. Wer glaubt, Rilke blicke auf einen besonders warmen Sommer zurück, da er doch schreibt:«… Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross …», täuscht sich, denn die Monate Juni, Juli und August des Jahres 1902 zeigten sich kapriziös – mit kühlen Temperaturen und viel Feuchtigkeit.
Die meteorologische Realität, die man dokumentiert vorfindet, kümmerte jedoch den Dichter nicht. Vielmehr sah er im Herbst die Möglichkeit, die Fülle zu kosten, bevor unweigerlich der Abschied droht:
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein …
Fülle und Abschied, diese Gegensätze, liegen für Rilke nah beisammen. Sie auszuhalten, fällt nicht leicht. Vielleicht gründet darin auch die Tatsache, dass der Herbst in der deutschsprachigen Lyrik stiefmütterlich behandelt wird, während besonders der Frühling, la Primavera in der italienischen Sprache, als wahre Primadonna daherkommt. Sollen wir uns demnach am Ende eines Herbstes ins Orchester der Trübsal-Bläser:innen einreihen? Keineswegs, gilt es doch, die Lektion der Maus Frederick zu beherzigen.
Frederick zählt zu einem Mäusevolk, das im Herbst emsig Vorräte sammelt und die Speicher füllt, um den Winter überstehen zu können. Aber die Hektik der anderen lässt Frederick ungerührt. «Was ist los mit dir», fragen ihn die Kollegen, «sammelst du keine Nahrungsmittel?» Frederick sagt ihnen, dass er Farben, Sonnenstrahlen und Wörter sammle. Als die Mäuse alle Vorräte aufgegessen haben und sich lustlos fühlen, überrascht sie Frederick mit den Farben, Sonnenstrahlen und Wörtern, aus denen er seine Geschichten formt, um sie ihnen zu erzählen. Da staunt das Mäusevolk: «Frederick, du bist ja ein Dichter.»
N a c h l e s e n kann man diese Geschichte im 1967 erschienenen Kinderbuch-Klassiker von Leo Lionni (1910– 1999), der als Sohn eines jüdischen Diamantenschleifers und einer Sängerin in Amsterdam, in den USA und in Italien aufwuchs. Er studierte Volkswirtschaft in Genua und Zürich, wandte sich aber bereits in diesen Jahren der Malerei und Grafik zu, und mit fünfzig Jahren begann er, sich als Autor und Illustrator den Bilderbüchern zu widmen. Doch was erwidert Frederick, der so gar nicht den ökonomischen Eifer der Mäuse teilt, als sie in ihm den Dichter erkennen? Etwas verschämt, aber gleichwohl stolz sagt er: «Ich weiss es, ihr lieben Mäusegesichter.»