«Es geht häufig um Grenzen und Ausgrenzung, um die Mauern in unserem Kopf», sagt Fotojournalist Klaus Petrus. Foto: Vera Rüttimann

Die Mauern in unserem Kopf

02.08.2022

Gespräch mit dem Fotojournalisten Klaus Petrus

Mit seinen Bildern aus Krisengebieten versucht der Fotojournalist und Reporter Klaus Petrus* Grenzen zu sprengen und Mauern jeglicher Art zu hinterfragen. Unlängst wurde er für seine Arbeit zur Migration mit dem Swiss Press Photo Award 2022 ausgezeichnet.

Interview: Vera Rüttimann

«pfarrblatt»: Wo hat Sie ihr letzter Auftrag hingeführt?

Klaus Petrus: Noch vor kurzem war ich im Auftrag der NZZ am Sonntag in Somalia-Somaliland unterwegs. Das Land steht im globalen Hungerindex wieder einmal ganz zuoberst. Tatsächlich habe ich dort Bilder gemacht, wie man sie aus den 1980er-Jahren während der Hungerskatastrophe am Horn von Afrika kennt: ausgezehrte Kinder, stummes Wimmern, Fliegen in ihrem Gesicht, die Blicke leer, ihre Haut verkrustet.

Die Hungerkrise gibt es dort schon lange, wird derzeit aber durch den Ukraine-Krieg beschleunigt. Der Grund: 90 Prozent des importierten Weizens stammt aus der Ukraine, der nun infolge des Krieges nicht mehr lieferbar ist.

Stichwort Ukraine-Krieg: Was dachten Sie, als der Krieg dort ausbrach?

Für mich hatte das eine Vorgeschichte, die hierzulande oft vergessen wird: Im Osten der Ukraine, im Donbass, dauert der Krieg schon seit acht Jahren an. Ich war dort, in den Schützengräben, es gab jeden Tag Gefechte.

Dass sich der Konflikt um den Donbass verschärfen würde, lag auf der Hand. Dennoch hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass Putin Kiew angreifen würde.

Vor einigen Monaten waren Sie erneut in der Ukraine. Was haben Sie dort erlebt?

Ich war an der ukrainisch-ungarischen Grenze. Als ich erfuhr, dass die ukrainischen Geflüchteten dort mit offenen Armen empfangen werden, war ich erstaunt.

Ich dokumentiere seit sechs Jahren Fluchtrouten von Migrant:innen aus dem Nahen und Mittleren Osten quer durch den Balkan, und Ungarn hat sich in dieser Zeit nicht gerade als ein Land hervorgetan, dass gegenüber Geflüchteten offen ist – um es gelinde zu sagen. Also fuhr ich an die Grenze, um zu verstehen, was da passiert.

Was haben Sie erkannt?

Es gab viel Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine, was mich berührt hat, denn ich sage mir immer: Wo Solidarität ist, da ist auch Menschlichkeit.

Allerdings wissen wir spätestens seit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, dass Solidarität ein Verfallsdatum hat – und ziemlich parteiisch sein kann. So war es auch an der ungarisch-ukrainischen Grenze: Die aus der Ukraine geflüchteten Roma wurden zum Beispiel regelrecht diskriminiert und als Flüchtlinge zweiter Klasse behandelt.

Was treibt Sie als Foto-Reporter an?

Ich gehöre nicht zu jenen, die glauben, dass unsere Arbeit den Menschen in den Ländern, aus denen wir berichten, unmittelbar hilft. Mein Anliegen besteht eher darin, etwas bei den Leuten hier zu bewirken. Konkret versuche ich mit meiner Arbeit, vorgefasste Meinungen und Klischees zu hinterfragen und sie manchmal über den Haufen zu werfen.

Gibt es in Ihrer Arbeit einen roten Faden?

Es geht häufig um Grenzen und Ausgrenzung, um Mauern auch – nicht bloss um solche aus Stein oder Beton, sondern auch um die Mauern in unserem Kopf.

Gibt es Erlebnisse, die Sie nach einer Reportage noch verfolgen?

Ja, oft sind das Dinge, die man mit Bildern oder Sprache nicht einfangen kann, so zum Beispiel Geräusche wie Schüsse oder Schreie, aber auch Gerüche oder schnelle, ruckartige Bewegungen. Das alles wird vom Körper abgespeichert und irgendwann kommt es wieder hoch. Allerdings ist das kein Dauerzustand.

Oft hat man den Eindruck, in einem Kriegsgebiet werde von morgens bis abends geschossen und gekämpft. Das entspricht nicht der Realität. Ganz oft passiert dort gar nichts und man ist am Warten.

Sie sind ein gefragter Vortragsredner. Wer interessiert sich für Ihre Vorträge?

Unter anderem Kirchgemeinden. Was für mich nicht erstaunlich ist. Migration – einer meiner Schwerpunkte – ist dort seit Jahren ein zentrales Thema, zum Glück. Zudem kommen die Geflüchteten oft aus Ländern, wo Religion immer noch eine bedeutende Rolle spielt. Fragen der Integration werden damit immer auch zu Fragen der religiösen Toleranz und Vielfalt – was schon für sich genommen eine spannende Sache ist.

 

*Klaus Petrus (55)
Der Fotojournalist und Reporter Klaus Petrus wurde 1967 in Naters VS geboren. Er ist Redaktor beim Strassenmagazin «Surprise» und arbeitet freiberuflich für nationale und internationale Medien. Bis 2012 war Klaus Petrus Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bern. Er lebt in Biel.
 

 

Bilder aus Afrika und der Ukraine

von Klaus Petrus

Auf eigene Faust: Geflüchtete in einem verfallenen Getreidehaus nahe des serbisch-ungarischen Grenzortes Horgos. Sie versuchen allein oder mit Hilfe von Schlepper über die Grenze in die EU zu gelangen; oft gelingt dies nicht und sie werden von der Polizei gewaltsam über die Grenze zurückgeschafft.

Wundersame Beziehung: Ein pakistanischer Geflüchteter hat an der serbisch-ungarischen Grenze ein verletztes junges Reh gefunden, es gepflegt und gross gezogen.

Der Krieg vor dem Krieg: Seit acht Jahren schon gibt es heftige Gefechte im Osten der Ukraine, im Donbas. Im Februar dieses Jahres startete Putin dann den Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Inzwischen tobt der blutige Krieg wiederum dort, wo 2014 alles seinen Anfang nahm: im Osten des Landes. Im Bild: ein Schützengraben in der Ostukraine.

Der Krieg vor dem Krieg: Seit acht Jahren schon gibt es heftige Gefechte im Osten der Ukraine, im Donbas. Im Februar dieses Jahres startete Putin dann den Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Inzwischen tobt der blutige Krieg wiederum dort, wo 2014 alles seinen Anfang nahm: im Osten des Landes. Im Bild: ein Soldat in den Schützengräben in der Ostukraine.

Ewiger Hunger: Somalia und Somaliland liegen im Hungerindex wieder einmal ganz oben. Entsprechend gleichen sich die Bilder denen aus den 1980er-Jahren während der Hungerkatastrophe am Horn von Afrika: Kinder, die infolge einseitiger Ernährung oder Hunger um ihr Leben kämpfen müssen.