Die katholische Kirche ist für die Schulbildung unerlässlich. Foto: Kirche in Not.
Die Mentalitäten und die Verhaltensweisen verwandeln
Die Herausforderungen der Kirche im Südsudan
Über 300'000 Tote gemäss den Vertretern der humanitären Hilfe, über eine Million Vertriebener durch einen Bürgerkrieg, der seit sieben Jahren dauert … Und das ist nicht alles: Seit Januar sind über sechs Millionen Menschen durch den Hunger bedroht! Dieses Drama durchleidet der Südsudan seit seiner Unabhängigkeit. Es ist ein Land, das gekämpft hat, um sich von einem unterdrückerischen und islamistischen Regime zu befreien – jenes von Khartum, welches die Reichtümer des Landes an sich riss und gleichzeitig versuchte, die grösstenteils christliche Bevölkerung des Südsudans zu arabisieren und zu islamisieren. Heute engagiert sich die katholische Kirche schwerpunktmässig in der Erziehung. Es ist dies die einzige Möglichkeit, um den Bewohnern wieder Hoffnung zu geben.
Die Situation im Südsudan ist katastrophal, und die Gewalt zermürbt die Region. Dies stellt die Frage nach der Identifizierung der Bevölkerung mit dem Christentum und nach ihrem Befreiungskampf gegen das islamistische Regime von Khartoum. Wie wirkt sich die religiöse Zugehörigkeit günstig auf die Entwicklung dieses Landes aus, das zu 60 % von Christen bewohnt wird und in dem es nur eine kleine muslimische Präsenz gibt?
Präsident des jungen Staates ist der Katholik Salva Kiir, welcher der Bevölkerungsgruppe der Dinkas angehört. Sein Rivale, ehemaliger Präsidentenstellvertreter, Riek Machar von der Bevölkerungsgruppe der Nouer ist ebenfalls Christ, gehört jedoch der presbyterianischen Kirche an. Die Macht liegt also in den Händen von Christen.
Sie können die grossen Ressourcen des Gebietes verwalten. Abgesehen von einigen Gebieten – jene von Abiyé und Kafia Kingi im Norden des Landes –, um die sich der Südsudan mit dem Sudan streitet, besitzt das Land in Tat und Wahrheit fast alle natürlichen Ressourcen: Erdöl, Uran, Kupfer… Die Bauern verfügen theoretisch über viel Land, um eine Landwirtschaft aufzubauen, die ihre Produkte sogar exportieren könnte. Die Wirklichkeit vor Ort ist eine ganz andere. Sie zeigt vor allem Leid, Traurigkeit und Tod…
Von der Hauptstadt Juba aus besteige ich ein Flugzeug des Welternährungsprogramms, das in die Region Abiyé, in den Norden des Landes fliegt, wo die Grenze mit dem Sudan verläuft. Hier ist die Not noch viel auffälliger und erscheint einem als absurd. In der Tat: Ich begegne Hunderten, die unter dem Hunger leiden, und gleichzeitig sehe ich Bauern mit ihren Rinderherden vorbeiziehen, die 50 oder sogar 100 Tiere zählen.
Hier gäbe es während Monaten genügend Nahrung für die Kinder, die ich am Strassenrand sehe! Doch in der Kultur des Landes stellt die Kuh einen Reichtum dar, der es einer Familie ermöglicht, ihre Söhne zu verheiraten. Um eine Frau heiraten zu können, braucht es nämlich zwischen 100 und 200 Kühe …
Die Volksgruppe steht über der Religion
Ich verlasse Agok, ein Flüchtlingsdorf in der Region von Abiyé, um meine Dienstreise im Landkreis («Countie») von Twic fortzusetzen. Bis dorthin sind es zwar bloss 60 Kilometer, doch die Reise dauert über drei Stunden! Über den erbärmlichen Zustand der Strassen sagt dies einiges aus. Die Hitze ist erstickend, doch das mit zu vielen Passagieren überladene Fahrzeug müssen wir oft verlassen, damit der Fahrer die Strassenhindernisse überwinden kann.
Der endlose Weg bietet jedoch Gelegenheit zum vielfachen Austausch. Ich und mein Begleiter sind die einzigen Weissen im Fahrzeug … und vermutlich halten sich auch in der ganzen Region keine anderen Weissen auf. Wir lösen deshalb unweigerlich eine gewisse Neugierde unter unseren Mitpassagieren aus. Wir müssen uns zur Kirche von Turalei begeben.
Dort wollen wir die Priester und die Ordensfrauen treffen, die sich um die Tausenden von Vertriebenen kümmern, die sich im Landkreis von Twic niedergelassen haben. Ayen, eine 50-jährige Frau, die neben mir im Auto sitzt, spricht mich in einem bemerkenswert guten Englisch an. Sie ist in Begleitung ihrer fünf Kinder unterwegs.
Sie sei Christin, erzählt sie mir. Auch ihr Gatte sei Christ. Doch der ist nicht mitgefahren, denn er muss sich um seine zweite Ehefrau kümmern, die bald ihr erstes Kind zur Welt bringen soll! Die Doppelehe dieses Mannes nährt meine Überlegungen darüber, was die Religion in den Herzen der Menschen auslöst und wie sie sich auf ihre Verhaltensweisen auswirkt.
Ich frage Ayen ganz spontan, wodurch sich ihres Erachtens das Christentum im Südsudan auszeichnet, und wie sie selber ihren Glauben praktiziert. Auf meine Frage antwortet wie aus der Kanone geschossen Julia, eine andere Mitfahrerin. Als Schwarze und als Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Dinka hat sie unter dem Regime von Khartum gelitten.
Für sie bedeutet Christsein: ihre Opposition gegenüber der Religion der muslimischen und arabischen Unterdrücker zum Ausdruck bringen. Doch heute sind ihre ethnische Herkunft und ihre Stammeszugehörigkeit entscheidender als ihre religiöse Zugehörigkeit. Das erklärt die Rivalität und die Spannungen zwischen den Dinkas und den Nuer, die in einem Bürgerkrieg um die Kontrolle der Reichtümer das Land ruiniert haben.
Seit Generationen habe der Südsudan nur Not, Krieg und Gewalt gekannt, unterstreicht der junge Weihbischof von Juba, ein Einheimischer. Er betont: Solange die Frauen und Männer nicht einmal einen Dollar pro Monat verdienen, werden sie kaum die Zeit dafür haben, sich für die Erziehung und die Veränderung der Mentalitäten einzusetzen.
Die Mentalitäten sind noch stark von althergebrachten Traditionen geprägt; auch hat die generationenübergreifende Gewalt diesen ihren Stempel aufgedrückt. Alle hier haben viele Kriegsjahre überlebt und unter der Unterdrückung des Regimes von Khartum gelitten. Dieses hat nie in das Land investiert, aber dessen immensen Ressourcen ausgebeutet.
Die Rache der Kuh
Die Mentalitäten und die Verhaltensweisen verwandeln … Es ist dies eine edle Herausforderung, für manche eher eine utopische, der sich die Kirche im Südsudan zu stellen versucht – mit lächerlich wenig Mitteln und einem Mangel an ausgebildetem Personal. Im Landkreis von Twic haben die drei Priester und sechs Ordensfrauen rund zehn Schulen eröffnet.
Die Schulen stehen Kindern und Jugendlichen von 4 bis 18 Jahren offen. Frappierend ist die grosse Anzahl Kinder. In den überfüllten Klassenzimmern hat es 50 und manchmal sogar bis zu 100 Schüler. Auch nimmt jede Schule oft über 1'500 Kinder und Jugendliche auf; ihnen muss während des ganzen Schuljahres täglich eine Mahlzeit verabreicht werden!
Zehntausende Kinder der Region haben diese Chance nicht. Pater Anthony, der Leiter der Schule, bedauert dies zutiefst, selbst wenn er gezwungen ist, sich aufgrund der fehlenden finanziellen und menschlichen Ressourcen mit dieser Realität abzufinden.
Pater Anthony: «Wir hoffen, unter unseren Schülern Bürger auszubilden, die über einen Sinn für Verantwortung, Gerechtigkeit und Vergebung verfügen, wie ihn das Evangelium lehrt. Es sollen Bürger sein, die zum Fortschritt des Landes beitragen können.»
Auf der Grundlage dieser sehr fragilen Identifizierung mit dem Christentum setzt sich die Kirche für die Entwicklung einer menschlicheren Gesellschaft ein. Sie kämpft gegen einzelne Traditionen, von deren Absurdität sogar die alten volkstümlichen Erzählungen der Region zeugen.
Ein Beispiel dafür: Eine Kuh und ein Büffel lebten im Wald ohne ihre Mutter. Diese war von den Menschen getötet worden. Indem er die menschlichen Wesen tötete, wollte sich der Büffel rächen. Die Kuh war listiger. Sie beschloss, sich den Menschen zu unterwerfen. Sie wusste, dass die Männer ohne den Besitz von Kühen nicht heiraten konnten. Viele Kriege haben ihre Wurzel in den Sippenverbänden, wo es darum ging, die Kühe anderer Stämme in den eigenen Besitz zu überführen. Die Kühe haben sich die Menschen untertan gemacht … und haben auf diese Weise viele von ihnen getötet. Welch schöne Vergeltung!
«Das wirkliche Merkmal christlicher ‘Differenz’ besteht darin, für das Bewusstwerden des wahren Freiheitssinns zu arbeiten und auch für die Verbundenheit mit den Werten und den positiven Traditionen», betont der Weihbischof von Juba.
Die Herausforderung ist gewaltig. Die Kirche im Südsudan will sich durch ihre humanitäre und pastorale Arbeit besonders in der Erziehung engagieren – da, wo die Hoffnung am grössten ist: unter den jungen Menschen.
Roberto Simona, Kirche in Not