Traumatisierung ohne Ende. Sowjetische Militärärzte untersuchen am 27. Januar 1945 ehemalige Gefangene des KZ Auschwitz. Foto: Keystone, akg-images.
Die Narben der Seele
Am 27. Januar ist internationaler Tag Holocaust-Gedenktag.
Am 27. Januar, dem Datum der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, wird der Internationale Tag des Shoah-Gedenkens begangen. Nach 76 Jahren tragen die Nachkommen immer noch an den Folgen.
Von Christiane Faschon
Annas Vater war ein Überlebender der Shoah. «Er war oft in seinen Schmerz eingesponnen. Ich versuchte, ihn da herauszuholen und gab mir Mühe, brav zu sein und gute Noten heim zu bringen», sagt sie. Ihr Vater habe sich meist im «Katastrophengang» befunden. Er befürchtete immer das Schlimmste und führte Notgepäck mit sich. Bei Katastrophen war er ruhig und kompetent, im Alltag zeigte er oft massive Angstreaktionen. Anna strengte sich bis zur Erschöpfung an, um ihrem Vater zu helfen; erfolglos.
In einer 2. Generationsgruppe fand sie Hilfe. Dank der Therapeutinnen und anderer Betroffener lernte sie die Situation einzuordnen und sich ein Stück weit davon zu befreien. «Ich schätze heute auch die Lebensleistung der Eltern, die trotz allem ein Berufs- und Familienleben aufbauten», sagt sie.
Mitte der 1960er kamen Kinder Überlebender mit ähnlichen Symptomen wie ihre Eltern zu Therapeut:innen. Damit begannen Untersuchungen zur Transgenerational Transmission of Trauma (TTT), die Übertragung von Erfahrungen der Angehörigen einer Generation auf deren Nachkommen. Dies geschieht meist unbeabsichtigt und unbewusst. Psychologische und genetische Faktoren aus unverarbeiteten Traumata spielen dabei eine Rolle.
Die Kinder betroffener Familien sollen ersetzen, was die Eltern verloren haben. Gleichzeitig sollen sie glücklich und erfolgreich werden und so den Sieg über die Verfolger repräsentieren. Die 2. Generation versucht die Eltern von den seelischen Schrecken zu erlösen und fühlt sich oft lebenslang für sie verantwortlich. Viele zweifeln, ob sie glücklich sein dürfen, wenn die Eltern leiden. Die 2. Generation ist sehr anfällig für Posttraumatische Belastungsstörungen, Stress, psychosomatische Krankheiten und Depressionen.
Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie erforscht seit Jahren die Auswirkungen der elterlichen Erfahrungen auf die Gene ihrer Kinder. Epigenetik ist das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen: Veränderungen an den Chromosomen bestimmen mit, wann welches Gen an- und abgeschaltet wird. Traumata spielen hier eine Rolle, da der Umgang mit Stress vererbt wird. Die Forschung zeigt: Traumata lassen sich vor Kindern nicht verbergen, auch wenn man nicht darüber spricht.
Die Nachkommen der Täter
Der israelische TTT-Forscher Dan Bar-On befragte erstmals in den 80er Jahren deutsche Täter:innennachkommen: Die meisten Väter hatten Angst vor Bestrafung, aber kein Schuldbewusstsein. Sie bürdeten die Schuld- und Schamgefühle den Kindern auf. (Meist brechen die Enkelkinder das Schweigen.) Diese lernten in zwei Welten zu leben. Neben der «heilen Familie» stand abgeschottet das Grauen ohne persönliche Konsequenzen. Den Bruch zwischen den Taten und der Akzeptanz der Folgen gaben die Täter:innen oft weiter. Auch die Kirche plädierte nach Kriegsende überwiegend für «Vergeben und Vergessen», sie half den Nachkommen nicht. Die Kirchen legten zwar Schuldbekenntnisse ab, doch sie setzten diese nicht um in der Seelsorge. Dan Bar-On befragte Seelsorger:innen nach Bekenntnissen von Täter:innen, etwa am Ende des Lebens. Nur wenige Personen haben sich zu ihrer Schuld bekannt. Und nur einen Mord, auch wenn sie sehr viele Morde – Massenerschiessungen etc. – auf dem Gewissen hatten.
Die Kinder mussten sich dem Horror stellen, etwa, dass der Vater ein Massenmörder war. Nicht wenige wollten daher keine Kinder. Sie sind ebenfalls traumatisiert, doch hat ihr Trauma eine andere Qualität als das der Verfolgten. In Exodus 34 heisst es, die Schuld der Väter werde bis ins dritte und vierte Glied «heimgesucht». Die Bibel beschreibt hier die menschliche Realität, es ist keine Schuldzuweisung.
Der 27. Januar ist eine Gelegenheit, sich der Folgen jeder Traumatisierung bewusst zu sein, die der Shoah, aber auch jeder Gewalt.