Ann-Kathrin Gässlein (r) bei einem muslimischen Fastenbrechen. Foto: zVg
«Die Ökumene interreligiös weiterführen»
Ann-Kathrin Gässlein referiert im Haus der Religionen.
In welchem Raum sollen interreligiöse Feiern stattfinden? Die Theologin Ann-Kathrin Gässlein referiert zu dieser Frage im Haus der Religionen*.
Interview: Sylvia Stam
«pfarrblatt»: Thema Ihres Referats ist der Raum, in dem interreligiöse Feiern stattfinden. Welche Rolle spielt er?
Ann-Katrin Gässlein: Die Handreichungen vor allem christlicher Kirchen aus Deutschland schlagen neutrale Räume – zum Beispiel die Aula einer Schule - oder Stationenwege vor: Man geht zuerst in die Kirche, dann in die Moschee und am Schluss gibt es irgendwo einen gemeinsamen Abschluss, am besten im Freien. Das mag ein theologisch stimmiger Vorschlag sein, doch er ist kaum praktikabel, weil Kirche und Moschee beispielsweise zu weit auseinander liegen.
Weshalb nicht in einer Kirche?
Man fürchtet, dass einerseits eine Religion zu dominant auftritt oder bevorzugt wird, während andere vereinnahmt werden. Der Islam zum Beispiel kennt ein Bilderverbot, die katholische Kirche nicht. In der Vergangenheit kam es vor, dass Bilder oder Kreuze abgedeckt wurden, was im Nachhinein zu Kritik führte. Besonders repräsentative Kirchen wie Kathedralen beherbergen oft Gräber, was bei Menschen anderer Religionen zum Problem der rituellen Unreinheit führen kann. In der Schweiz aber werden Kirchen mehrheitlich wegen ihres sakralen Charakters sehr geschätzt.
Sie haben 20 interreligiöse Feiern in der Schweiz besucht, darunter drei im Haus der Religionen in Bern. Wie wird das dort gehandhabt?
Ich habe dort zwei Feiern erlebt, die in der Kirche im Haus der Religionen angefangen haben und anschliessend in ein anderes Gotteshaus gewechselt sind. In Mehrreligionenhäusern ist das Modell «Stationenweg» tatsächlich möglich. Als grosse Chance solcher Häuser sehe ich, dass man die anderen räumlich nahe besuchen kann. Allerdings bieten Mehrreligionenhäuser noch mehr Potenzial als interreligiöse Feiern.
Von wem geht das Bedürfnis nach interreligiösen Feiern mehrheitlich aus?
Das ist vor allem ein Bedürfnis von Angehörigen christlicher Landeskirchen und teilweise von «westlichen» Personen mit Konversionsbiografie. Migrant:innen der Erstgeneration haben dieses Bedürfnis erst mal nicht.
Woher kommt dieses Bedürfnis bei Christ:innen?
In den Gesprächen zeigen sich drei Schwerpunkte: Der lange verkündete Anspruch, dass das Christentum die einzig seligmachende Wahrheit vertrete, stösst heute auf Ablehnung. Dies hat auch zwischen christlichen Konfessionen viele Verletzungen verursacht, wenn etwa der katholische Grossvater seine reformierte Freundin nicht heiraten durfte. Diesen Weg wollen viele nicht weitergehen, sondern die Ökumene interreligiös weiterführen.
Ein zweiter Schwerpunkt ist das Thema Frau. Viele Christ:innen stossen sich an der fehlenden Gleichberechtigung von Männern und Frauen, vor allem in der katholischen Kirche. Ähnlich wie die religiös begründete Ausschliesslichkeit wollen sie die Zurücksetzung von Frauen überwinden.
Sind andere Religionen denn weniger patriarchal?
Nein. Wenn Christ:innen mit dieser Erwartung an eine interreligiöse Feier gehen und dort nur Funktionäre aus anderen Religionen begegnen, sind sie nicht selten enttäuscht. Spannend ist, dass sich in interreligiösen Feiern bisweilen unzufriedene Frauen aus verschiedenen Religionen finden, die dann Allianzen bilden und gemeinsam das patriarchale Erbe beklagen.
Und der dritte Aspekt?
Interreligiöse Feiern werden so zu einem gewissen Schutzraum für Menschen, um sich mit Gleichgesinnten zu verbinden. In diesen Feiern zeigen sich Autoritäts- und Hierarchieprobleme der einzelnen Religionsgemeinschaften, mit denen alle zu kämpfen haben. Oft nehmen Menschen teil, die in ihrer eigenen Religion kein besonderes Amt innehaben oder die in ihren Gemeinschaften gar nicht anerkannt sind. Interreligiöse Feiern werden so zu einem Experimentierraum, um abseits der geordneten Hierarchie neue Formen von Gebeten zu finden.
Interreligiösen Feiern haftet oft etwas Künstliches an. Sie wirken wie eine Aneinanderreihung von Einzelteilen, die kein Ganzes ergeben. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, interreligiöse Feiern sind ja auch keine Rituale. Es sind jeweils individuelle Anlässe, die Ritualteile miteinander verbinden. Oft werden beliebte Elemente aus dem Kontext herausgelöst, verkürzt und in diesen Feiern aufgeführt. Den Feiernden geht es denn auch weniger um eine Gottesbegegnung, als darum, durch die Feier gewisse theologische Werte zu bestätigen: dass man Brücken zu anderen Menschen bauen, den Glauben der anderen ernst nehmen oder sich geschwisterlich begegnen möchte. Die Feier ist eine Bestätigung dieser Werte, aber erst einmal kein liturgisch-ritueller Gewinn.
Gilt das auch für die Migrations-Religionen?
Für die, mit denen ich gesprochen habe, ist das eine positive Erfahrung. Sie fühlen sich als wichtiger Teil der Gesellschaft und schätzen, dass man auf sie zukommt, sie ernst nimmt und einlädt. Das Hauptproblem sind ihre Ressourcen: Zeit, Geld und Personal für solche Feiern fehlen.
Die christlichen Kirchen verfügen entsprechend über weit mehr zeitliche und finanzielle Ressourcen. Wie kann man diesem Ungleichgewicht begegnen?
Zeit und Beziehungsarbeit sind der Schlüssel. Christ:innen müssen sich erst eingestehen, dass sie etwas von den andern wollen, nicht umgekehrt. Es kann funktionieren, wenn die christliche Seite den Migrations-Gemeinden zuerst etwas anbietet: Räumlichkeiten zur günstigen Miete beispielsweise, Wertschätzung durch Besuche, konkrete Hilfen bei Übersetzungen, Beziehungsarbeit. Das kostet sehr viel Zeit und Geduld – und ist übrigens nicht anders, als mit christlichen Migrationsgemeinden oder Missionen.
Wie kann diese Beziehungsarbeit aussehen?
Jemand hat mir erzählt, dass sie vier Stunden lang in einem buddhistischen Tempel chinesischen Rezitationen zugehört hat. Danach hat sie mit allen Mitgliedern der Gemeinde gesprochen. Alle vierzehn Tage telefoniert sie auf Englisch mit einem Rabbiner. So baut man eine Beziehung und Vertrauen auf. Dann können auch interreligiöse Feiern gut gelingen.
Die Islamwissenschaftlerin Rifa'at Lenzin sagte, damit interreligiöse Feiern gelingen, sei es wichtig, auch die Unterschiede in den einzelnen Religionen anzuerkennen. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Dass Unterschiedlichkeit sichtbar wird, ist das Hauptmerkmal dieser Feiern. Das erwartet man von ihr. An so einer Feier bin ich nicht überrascht, wenn der Koran auf Arabisch rezitiert wird.
Allerdings möchten die Teilnehmenden auch die Verbundenheit mit den andern spüren. Nur durch Zuhören allein entsteht das nicht. Es braucht eine gemeinsame Handlung, ein Ritual, das über diese Texte hinweg da ist.
Also doch ein Ritual. Wie können solche Rituale aussehen?
In einer Feier hat die buddhistische Vertreterin als Gastgeschenk an die Moschee einen Olivenbaum mitgebracht. Während Musik spielte, wurden Bändel an diesen Baum gehängt, als Ausdruck der Verbundenheit. Das war eine adaptierte buddhistische Tradition, der sich alle anschliessen konnten.
Was ist mit Kerzen?
Kerzen anzünden kommt fast überall gut an, erstaunlicherweise auch das «Ubi caritas» Ich habe erlebt, dass ein Halleluja gesungen wurde, dazu haben die Leute getanzt, während manchen die Tränen über die Wangen liefen. Solche Elemente lösen bei den Mitfeiernden etwas aus. Sie lernen nicht nur etwas, sondern sie machen auch eine religiöse Erfahrung. Die Akteur:innen sagten mir, es fehle etwas, wenn man nur einen Textbeitrag an den nächsten reiht, nämlich das emotional Berührende.
Werden sich die Feiern verändern?
Ich glaube, die Feiern werden mehr in die Richtung gehen, religiös nicht eindeutig verortete Menschen anzusprechen. Das könnte in Richtung von freien Meditationen, gesprochener Poesie oder Musik gehen. Solche Feiern sprechen ein einheimisches Publikum an, das spirituell afin ist, obschon es sich in den Kirchen aber auch in anderen festen Religionssystemen nicht heimisch fühlt.
Werden Sie weiterhin interreligiöse Feiern besuchen, wenn Ihre Dissertation fertig ist?
Ich bin Präsidentin des Runden Tischs der Religionen und habe hin und wieder dieAufgabe, eine interreligiöse Feier mitzugestalten. Manchmal fragen mich Leute nach Tipps, wie man es besser machen könnte. Dabei gibt es so unterschiedliche Weisen, wie man eine solche Feier gestalten kann. Im katholisch-ländlichen Nidwalden sieht so eine interreligiöse Feier ganz anders aus als in der heute mehrheitlich konfessionslosen Stadt Basel, und das ist auch gut so.
* Die katholische Theologin Ann-Kathrin Gässlein (41) aus St. Gallen schreibt derzeit ihre Dissertation an der Universität Luzern zu religionsverbindenden Feiern. Sie ist Präsidentin des Runden Tischs der Religionen in St. Gallen. Sie referiert an der *Tagung Mehrreligionenhäuser, 19./20.5.2022, Haus der Religionen, Bern.