Edgardo Mortara (rechts) mit seiner Mutter Marianna Padovani (Mitte) und wahrscheinlich seinem Bruder, um 1885. Foto: wikimedia commons
Die päpstliche Kindesentführung
Ein jüdischer Junge, eine Entführung und der Vatikan. Der Fall Mortara markiert eine ideologische Zäsur in der Kirchengeschichte.
Edgardo Mortara wird im Jahr 1858 aus dem jüdischen Elternhaus in Bologna von der päpstlichen Polizei entführt. Der Junge ist sechs Jahre alt. Der Fall ist bis heute unvergessen und markiert den Beginn einer ideologischen Verhärtung in der katholischen Kirche.
Von Josef Lang
Am Abend des 23. Juni 1858 drang ein Kommando der päpstlichen Polizei in Bologna in das Haus der jüdischen Kaufmannsfamilie Mortara ein. Es verlangte die sofortige Herausgabe des sechsjährigen Sohnes Edgardo, um diesen nach Rom zu überführen. Die entsetzten Eltern erfuhren, dass ihr Kind fünf Jahre zuvor heimlich getauft worden war und deshalb der Kirche gehörte. Die damalige Magd hatte den jüdischen Knaben getauft, weil sie meinte, er würde seine Krankheit nicht überleben. Hätte Anna Morisi, eine Analphabetin, die Geschichte ein weiteres Jahr für sich behalten, wäre Edgardo und seiner Familie die Tragödie erspart geblieben. 1859 befreite sich Bologna mit einem Volksaufstand aus dem Kirchenstaat.
Weltweites Entsetzen
Zu den ersten Amtshandlungen der neuen Behörden gehörten die Gleichberechtigung der Juden, die Abschaffung der Inquisition und die Verhaftung des Inquisitors wegen Kindsentführung. Der Dominikanerpater Pier Gaetano Feletti hatte das Kidnapping organisiert, was ihm wegen eines Schriftstücks bewiesen werden konnte. In diesem hatte er die Polizisten angewiesen, darauf zu achten, dass sie Edgardo nicht mit einem seiner Brüder verwechselten. Trotzdem wurde der Inquisitor freigesprochen, weil seine Handlungsweise nach dem damals geltenden Kirchenrecht legal gewesen war. Tatsächlich erlaubte das Kanonische Recht die Nottaufe von Kindern, wenn deren Leben bedroht war. Weiter verlangte es deren katholische Erziehung.
Die einzige Chance für jüdische Eltern, ihr getauftes Kind zu behalten, war die Konversion zum Christentum. Aussergewöhnlich am Kindsraub von Bologna war nicht die Tat an sich, sondern das weltweite Entsetzen, das sie auslöste. Der Fall Mortara wurde in ganz Europa und in den USA zu einer «cause célèbre», die dem Papsttum schweren Schaden zufügte und die antiklerikalen Kräfte überall stärkte. Ein Jahrzehnt nach dem Völkerfrühling von 1848, der sich nur in der Schweiz durchgesetzt hatte, begannen sich Liberale und Demokraten wieder zu regen. Das Schicksal des jüdischen Kindes wurde für sie zum internationalen Fanal und während Monaten zum wichtigsten Medienthema.
Die New York Times veröffentlichte allein im Dezember 1858 zwei Dutzend Artikel. Die italienische Nationalbewegung, deren Hauptgegner der Kirchenstaat war, packte die Chance, um dessen anachronistische Natur zu enthüllen. Der Druck der öffentlichen Meinung war derart stark, dass nicht nur vatikanferne Regierungen wie die britische, holländische, preussische oder russische, sondern auch vatikannahe wie die französische und österreichische zum Papst auf Distanz gingen. Am heftigsten reagierten die jüdischen Gemeinden, die Gesandte wie den britischen Diplomaten Moses Montefiori nach Rom schickten und die Alliance Israélite Universelle gründeten.
Kirchenrecht gegen Naturrecht
Die politische Polarisierung zwischen den auf den Papst «jenseits der Berge» orientierten Ultramontanen und den von der Aufklärung ausgehenden Liberalen beförderte einen Prozess, der sich in der Schweiz besonders stark auswirkte: eine Fusion von Ultramontanismus und Antisemitismus sowie eine Identifikation von Freisinn und Judenemanzipation. So schrieb der liberale Berner «Bund» am 20. Oktober 1858: «Es wäre wirklich traurig um die katholische Kirche bestellt, wenn die Regeln des gesunden Menschenverstandes und des natürlichen Herzens sich nicht mehr mit ihren Lehrsätzen reimen liessen.»
Die katholisch-konservativen Medien reagierten anfänglich zurückhaltend, oft ungläubig, in Einzelfällen sogar kritisch, bis die offiziöse Schweizerische Kirchenzeitung die dogmatisch verbindliche Linie verkündete. Das damals wichtigste Organ des politischen Katholizismus, die «Schwyzer Zeitung», leugnete noch im September den Wahrheitsgehalt der «neuestens verbreitenden Sagen» über das «israelitische Kind zu Bologna». Dann polemisierte der Frankreich-Korrespondent gegen die Aussage des ultramontanen «L’Univers», das «kanonische Recht» müsse «das Naturrecht nicht achten»: Mit einem solchen «Katholizismus» könne man sich nie «befreunden», gegen eine solche Haltung könne «kein Urteil zu hart lauten».
Der Klartext provozierte die «Kirchenzeitung», das Organ der Bischöfe, zu einer heftigen Gegenkampagne. Sie fragte im November 1858 den Autor, «ob der Knoblauch», damit war das Judentum gemeint, «vom nahen Elsass auch auf ihn betäubend gewirkt» habe. Hinter der Skandalisierung des Mortara-Falls ständen die Freimaurerblätter «in Frankreich wie in England», die sich «unter hebräischer Leitung und Curatel» befänden. Ziemlich zerknirscht distanzierte sich die «Schwyzer Zeitung» darauf von der kritischen Haltung «eines einzelnen Mitarbeiters». Kurz zuvor hatte sie den Beschluss der Thurgauer Regierung, Kinder hätten unabhängig von der Konfession die nächstgelegene Schule zu besuchen, mit der Entführung Mortaras verglichen.
Vom Fall Mortara zur Unfehlbarkeit
Die Frage der Gleichberechtigung der Juden wurde für die nächsten 15 Jahre zum Hauptthema der innerkatholischen Spaltung. Freisinnige Katholiken wie der Aargauer Augustin Keller oder der Bernjurassier Pierre Jolissaint gehörten zu den Vorkämpfern der Juden- emanzipation, der 1857 gegründete Piusverein zu deren Hauptgegnern. In der Enzyklika «Etsi multa» aus dem Jahre 1873, die sich stark gegen die Schweizer Freisinnigen richtete, benützte Pius IX. den Begriff «Synagoge des Satans» aus der Johannes-Offenbarung. Die tolerante Haltung setzte sich im Bundesstaat 1874, in der katholischen Kirche 1965 im Rahmen des Zweiten Vatikanums durch. Dieses bedeutete in vielen, aber nicht allen Fragen eine Abkehr vom antimodernen Fundamentalismus des Ersten Vatikanums 1869/70.
Zwischen dessen Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit und der Mortara-Affäre gibt es einen engen Zusammenhang. Mit der Entführung eines Kindes, die realpolitisch katastrophale Folgen hatte, unter anderem den Verlust der französischen Protektion für den Kirchenstaat, statuierte Pius IX. ein Exempel: Das Dogma bedeutete ihm alles, die «Proteste der ganzen Welt» waren ihm «völlig egal». Der nächste Schritt des Papstes war 1864 der «Syllabus Errorum» gegen 80 «Irrtümer der Moderne», unter anderen die Religionsfreiheit, die Zivilehe, die Trennung von Kirche und Staat, den Liberalismus und den Sozialismus
Umstrittene Seligsprechung
Diese ideologische Verhärtung ging einher mit einer Reihe von Massnahmen, die jene Missbräuche erleichterte, welche die Kirche in ihre heutige Krise stürzte: Sakralisierung des priesterlichen Amtscharismas, Verschärfung des Zwangszölibats, Verstärkung des klerikalen Korpsgeistes, Wagenburgmentalität mit ihrer Omertà Catolica, Disziplinierung, Zentralisierung und Hierarchisierung. Umso umstrittener war die Seligsprechung Pius IX. am 53. September 2000 durch Johannes Paul II. Kritik kam vor allem aus theologischen Fakultäten und von der Familie Mortara. Die Literaturwissenschaftlerin Elena Mortara sagte, das reisse «diese alte Wunde auf». Und sie erzählte von ihrer Grossmutter, der Schwester Edgardos, die 1927 im Todeskampf schrie: «Sie nehmen meine Kinder weg.»
Edgardo Mortara starb dreizehn Jahre später, am 11. März 1940, in einem belgischen Kloster, zwei Monate bevor die Nazis das Land besetzten. Er war 1865 mit 13 Jahren als Novize in einen Orden eingetreten und hatte dabei den Namen seines päpstlichen «Ersatzvaters» Pio angenommen. 1873 wurde er zum Priester geweiht. Sein richtiger Vater, der 1871 nach dem Suizid eines Dienstmädchens in erster Instanz wegen Mordes verurteilt und nach sieben Monaten Gefängnis in zweiter Instanz freigesprochen worden war, starb kurz darauf als gebrochener Mann.
Die Mutter, die ihren Sohn seit einem dramatischen Besuch in Rom im Oktober 1858 nie mehr gesehen hatte, suchte diesen 1878 in Perpignan bei einer seiner berühmten Predigten auf. Zwanzig Jahre zuvor hatte Edgardo ihr gegenüber den Wunsch geäussert, nach Hause zurückzukehren. Diesmal versucht Pio Edgardo, sie zur Konversion zu bewegen. Nach ihrem Tod 1890 verbreiteten katholische Medien, dies wäre ihm an ihrem Totenbett gelungen. Pater Pio Edgardo Mortara sah sich gezwungen, diese Behauptungen öffentlich zu dementieren.