«Diese frierenden und schutzbedürftigen Menschen sind keine Bedrohung für unsere Kultur und Zivilisation.» Marek Wieruszewski über die Krise an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Auf dem Bild warten Menschen am 27. November an dieser Grenze auf Essenspakete. Foto: Reuters, Kacper Pempel

«Die politische Rhetorik wird militarisiert»

10.12.2021

Besuch beim Solidaritätsnetz Bern zum Menschenrechtstag

Das Solidaritätsnetz Bern ist Anlauf- und Beratungsstelle für in Not geratene Menschen mit unsicherer Bleibeperspektive. Die Freiwilligen-Organisation bietet in erster Linie Rechts- und Sozialberatungen an. Doch auch politisch engagiert sie sich: So kritisiert sie etwa die prekäre Menschenrechtslage an den EU-Aussengrenzen.

Von Antonio Suárez

Der Verein Solidaritätsnetz Bern ist seit rund zwei Jahrzehnten aktiv und wurde vor fünf Jahren vom Kanton offiziell als gemeinnützige Organisation anerkannt. Er setzt sich allen voran für die Rechte von Migrantinnen und Migranten ohne geregelten Aufenthaltsstatus ein. Dabei werden Asylsuchende, Sans-Papiers oder vorläufig Aufgenommene bei den asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren begleitet. Die Anlaufstelle lebt hauptsächlich von der Freiwilligenarbeit. Finanziert wird sie durch private Spenden sowie Mitglieder- und Stiftungsbeiträge. Auch einzelne reformierte und katholische Kirchgemeinden zweigen Kollekte aus dem Kirchenstock ab.

Konkrete Unterstützung

Marek Wieruszewski ist einer von insgesamt drei Festangestellten und kümmert sich als Jurist um die Rechtsberatung. Vor zwölf Jahren war er als Diplomat nach Bern gekommen. Eine Zeitlang war er Konsul der polnischen Botschaft. Nach Beendigung der Dienstkarriere beschloss er, sich mit seiner Familie in der Bundesstadt niederzulassen. «Die Menschen, die zu uns kommen, haben sehr unterschiedliche Probleme. Wir versuchen ihnen zu helfen, soweit wir können», fasst Wieruszewski seine Arbeit zusammen. Die Geflüchteten erhalten in nahezu allen Lebenssituationen Unterstützung. So wird einmal ein Schutzbedürftiger im Spital besucht und ein andermal ein wegen illegalen Aufenthalts verurteilter Flüchtling zum Haftantritt begleitet.

Menschen aus der ganzen Welt

Derzeit führt das Solidaritätsnetz Bern über 75 Betreuungsfälle in der Pendenzenkartei. Es handelt sich um Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern. Die wichtigsten Herkunftsnationen und -regionen sind Äthiopien, Eritrea und Somalia, Georgien und der Nordkaukasus sowie der Iran und Nordirak. Insbesondere die Lage in Äthiopien, wo die Regierung einen Krieg gegen die abtrünnige Provinz Tigray führt, habe sich drastisch verschlechtert, stellt Wieruszewski fest. Die schweizerischen Migrationsbehörden hätten die Lage noch nicht neu beurteilt, beklagt er. Der Jurist kritisiert auch den Umstand, dass die Schweiz Länder wie den Kosovo oder Georgien als sichere Drittstaaten einstuft. «Laut der hiesigen Rechtsauffassung gibt es in Georgien Zugang zu medizinischer Grundversorgung und Sozialhilfeprogrammen. Doch faktisch gibt es das nicht. Von allen Landeskundigen, die ich persönlich kenne, wird dies bestritten.»

Politische Agenda

Das Solidaritätsnetz Bern engagiert sich auch politisch für die Flüchtlingshilfe. Im Januar 2020 reichte es gemeinsam mit anderen Hilfsorganisationen die Petition «Sterben auf dem Mittelmeer stoppen!» im Parlament ein. «Es ging darum, ein Zeichen zu setzen», begründet Wieruszewski den Schritt. Besonders kritisch sei die Lage derzeit an den Schengen-Aussengrenzen: «Wir fordern, dass geflüchteten Personen ihr Menschenrecht auf ein faires Asylverfahren gewährt wird und nicht durch Push-Backs physisch daran gehindert werden.» Diese illegale Praxis würde inzwischen von vielen Ländern geduldet. Das Humanitäre sei nur noch zweitrangig, kritisiert er. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein paar Tausend Flüchtlinge an der polnischen Grenze eine Gefahr für ganz Europa sind. Die politische Rhetorik wird militarisiert und absichtlich dazu benutzt, die Situation als Krieg darzustellen, als ob diese frierenden und schutzbedürftigen Menschen eine Bedrohung für unsere Kultur und Zivilisation seien», empört er sich.

Hoffnung auf Veränderung

Wieruszewski lernte in Bern einen Afghanen und einen Iraker kennen, denen der Übertritt von Belarus über die grüne Grenze nach Polen gelang. «Sie waren über Wochen im Grenzgebiet festgehalten. Sie durften weder auf die polnische Seite noch zurück.» Das Lukaschenko-Regime habe sie mit Versprechungen einer Weiterreise in die Europäische Union aus ihren Heimatländern gelockt, was natürlich ein abgekartetes politisches Spiel sei. «Doch aus meiner Sicht spielt das keine Rolle. Für mich sind es Menschen», sagt der praktizierende Katholik, der regelmässig die Messe in der Dreifaltigkeitskirche besucht.

Zuversicht schöpft Wieruszewski aus der Solidarität. Seine Organisation sei ein gutes Beispiel dafür, dass viele Leute bereit seien, anderen zu helfen. «Es motiviert mich, wenn ich sehe, dass Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen geflüchtet sind und die sehr viel Schlimmes durchgemacht haben, durch unsere Arbeit und die der Freiwilligen ein wenig entlastet werden und wieder ein bisschen Hoffnung schöpfen. Auf diese Weise leisten wir einen Beitrag, um die Dinge in eine positive Richtung zu verändern.»

 

Hinweise:

Das Solidaritätsnetz Bern hat den diesjährigen Sozialpeis der Stadt Bern erhalten.

Der internationale Tag der Menschenrechte erinnert jeweils am 10. Dezember an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948.

Auch christliche Kirchen in der Schweiz erinnern an die Bedeutung der Menschenrechte. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz prangert in ihrem Text «Menschenrechte sind kein Spiel» Rechtsverletzungen im Emirat Katar auf. Spätestens die Vorbereitungen zur Fussballweltmeisterschaft 2022 hätten die prekäre Lage der Arbeitsmigrant:innen im Wüstenstaat offenbart.

Die Vereinten Nationen stellen den Tag unter das Motto «Gleichheit – Ungleichheiten reduzieren, Menschenrechte stärken»