Saisonniers aus Italien am Bahnhof Bern 1962: Sie fuhren über Weihnachten zurück in ihre Heimatländer. Mit dabei ihre Kinder, die sie oft auf Estrichen verstecken mussten. Foto: Keystone, Joe Widmer
Die verbotenen Kinder
Das Leid der Saisonnier-Familien
Sie waren hier, aber das war ihnen nicht gestattet. Sie durften keinenfalls gesehen werden und mussten sich deshalb verstecken: die Kinder von Arbeitsmigrant:innen. Erst vor zwanzig Jahren ist das Saisonnierstatut abgeschafft worden, das Kinder kriminalisiert hat.
Von Marcel Friedli
Für Egidio Stigliano riecht es hier wie früher. Und nach früher riecht es hier. Hier, das ist im Wald bei Altstätten SG. Früher, das sind die frühen 1970er-Jahre. Hier hat Egidio dem Plätschern des Baches gelauscht, ist den Hang hochgeklettert, hat sich in der Höhle oben versteckt.
Dort hat Egidio Versteckis gespielt. Mit sich allein. Vielleicht verarbeitete er so spielerisch und spielend den Ernst seines Lebens, denn: Er musste sich tatsächlich verstecken. «Auf der Strasse zu gehen», erzählt der heute 62-Jährige, «hatten mir meine Eltern verboten. Ich sollte nicht entdeckt werden.»
Denn Egidio war als Sohn italienischer Arbeitsmigrant:innen illegal in der Schweiz. Als Folge des Saisonnierstatuts, das erst vor zwanzig Jahren abgeschafft worden ist (siehe Kasten). Sein Vater arbeitete als Maurer, während seine Mutter in der Textilfabrik in 4Altstätten bügelte. «Ich habe mich gefragt», sagt Egidio Stigliano, «wieso sie in der Schweiz keine Kinder wollen. Das habe ich nicht verstanden. Unsere Eltern haben gelitten, wir Kinder haben gelitten.»
Erst vor zwanzig Jahren abgeschafft
Das Saisonnierstatut sicherte der Schweiz wirtschaftliche Flexibilität und federte gleichzeitig den vermeintlich übermässigen Zustrom von Migrant:innen ab. Es war fast sieben Jahrzehnte gültig, von 1934 bis 2002, und ist erst vor zwanzig Jahren abgeschafft worden, als die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU in Kraft trat. Dieses Gesetz bedeutete, dass Arbeitsmigrant:innen ihre Kinder nicht mitnehmen durften. Ab 1976 durften Kinder nachreisen, wenn ein Elternteil fünf Saisons in einem Betrieb angestellt war. Gemäss Schätzungen lebten in den 1970er-Jahren rund 15 000 Kinder illegal in der Schweiz. Die Forschung hat sich mit dieser Thematik kaum auseinandergesetzt.
Geschenke
So durfte nichts passieren, was Aufsehen erregt hätte. Und doch geschah es prompt: Hier, im Wald, am Bach, hat sich Egidio den Arm gebrochen. Als Kind mit illegalem Aufenthaltsstatus hatte er kein Anrecht darauf, medizinisch versorgt zu werden. Doch Egidio hatte Glück, wie er sich erinnert: «Ein Arzt aus dem Dorf, ein liebenswerter Mann, hat mir illegal einen Gips gemacht.»
Als der Arm wieder verheilt war, beobachtete er andere Kinder vom Balkon aus: wie sie zum Schwimmen gingen oder Fussball spielten. «Ich durfte sie nicht ansprechen», erzählt Egidio Stigliano. «Ich musste allein bleiben.»
Immerhin habe er so bereits als Kind gelernt, schwierige Situationen zu meistern. «Das hat mich geprägt: Ich kann mich gut anpassen – das ist ein Geschenk der Migration.»
Im Nachhinein ebenso ein Geschenk war, als er am Bach im Wald doch entdeckt wurde. Eine Gruppe mit Kindern kam vorbei. «Die Lehrerin hat mich auf Italienisch angesprochen und gemeldet. Sie meinte es gut.»
Am Abend jedoch klingelten Polizisten. «Sie wollten mich ausweisen», erinnert sich Egidio Stigliano. Sein Vater habe sich gewehrt. «Er sagte: ‹Das sind eure Gesetze – aber das ist mein Sohn.›» Fürs Erste wirkte das.
Doch nur bis zum nächsten Abend – dann kreuzten die Polizisten wieder auf. «Die Arbeit meines Vaters war gefragt, weil er mit Stein und Beton umgehen konnte, als hier noch überwiegend mit Holz gebaut wurde. Darum sagte der Chef meines Vaters den Polizisten, dass sein Geschäft ohne Papa nicht weiterbestehen könne.» Das sass. Die Familie durfte bleiben, Egidio erhielt einen Platz in der Schule.
«Der Kapitalismus», kommentiert der 62-Jährige, «hatte sich durchgesetzt.» Gymnasium und Studium absolvierte Edigio Stigliano in Italien. 1990 zog er wieder in die Schweiz. «Meine Mutter hat jeden Abend auf mich gewartet und für mich gekocht. Damit wollte sie etwas nachholen.»
Ferienmamma
Vor allem jene vier Jahre, als er bei der Nonna in Süditalien gewohnt hatte, während seine Eltern in der Schweiz Geld verdienten. Diese setzten seiner Mamma zu. «Sie hatte Depressionen. Einmal, als sie uns in Italien besuchte, war sie nur noch Haut und Knochen. Ich dachte, sie werde sterben. Der Arzt meinte, es sei am wichtigsten, dass sie mit ihren Kindern zusammen sei.» Doch das war oft nicht möglich. «Die Zeit, die man nicht zusammen verbracht hat, kommt nicht zurück», sagt Egidio Stigliano. «Das lässt sich nicht wieder gutmachen.»
Entschuldigung
Auf eine Art Wiedergutmachung hofft Egidio Stigliano trotzdem. Dafür setzt er sich als Vizepräsident des Vereins Tesoro ein. Mit dem Ziel, dass sich die Schweiz entschuldigt und die Opfer symbolisch entschädigt. «Etwas, das Geschichte ist, soll Geschichte werden. Ich verstehe nicht, warum sich die Schweiz mit diesem schwarzen Fleck auf der Weste nicht beschäftigen will.» Zudem bemängelt er auch das damalige Verhalten der Kirchen, die das Saisonnierstatut zwar kritisiert haben. Aber, wie Egidio Stigliano sagt: «Niemand hat etwas gegen unser Leid unternommen – nicht einmal die Kirche.»
«Ein Attentat auf die Familien der Arbeitsmigrant:innen»
Mit sieben Jahren, als seine Nonna starb, kam der heute 62-jährige Egidio Stigliano erstmals in die Schweiz (siehe Seite 4). «Ich war überglücklich», erinnert er sich. «In Italien sass ich auf einem Mäuerchen am Bahnhof und konnte kaum erwarten, zu meinen Eltern in die Schweiz zu fahren.»
Vier Jahre davor war er von seinen Eltern zurückgelassen worden – weil sie in der Schweiz Geld verdienen mussten. Die Primarschule absolvierte Egidio Stigliano in der Schweiz, das Gymnasium besuchte er in Italien, wo er Medizin studierte. Mit dreiunddreissig Jahren zog er wieder in die Schweiz, wo er bei einem Konsulat und als Lehrer tätig war. Er ist verheiratet, lebt in Vaduz und arbeitet als Neuropädagoge.
Egidio Stigliano ist Vizepräsident des Vereins Tesoro, der vor einem Jahr gegründet worden ist und rund vierzig Mitglieder hat. Dieser setzt sich für Menschen ein, die unter dem Saisonnierstatut gelitten haben. «Die damalige Migrationspolitik», sagt Egidio Stigliano, «war ein Attentat auf die Familien der Arbeitsmigrant:innen. Viele lebten in prekären Verhältnissen – und das in der Heimat von Heinrich Pestalozzi und im Land des Roten Kreuzes.»
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