«Die Studie hat zum Ziel, dass den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt.» Bischof Felix Gmür. Foto: Manuela Matt
«Die Weltkirche ist gross und die Schweiz ein kleines Land»
Gespräch mit Bischof Felix Gmür
Ein Gespräch mit Bischof Felix Gmür zum Kulturwandel in der Kirche, zu seiner Rolle und zur Weiterentwicklung im synodalen Prozess.
Interview: Eva Meienberg*
Wissen Sie, was die grösste Angst der Menschen ist, nach der Veröffentlichung der Studie?
Bischof Felix Gmür: Das alles gleichbleibt, wie es ist.
Viele Menschen glauben Ihnen nicht mehr. Wie schaffen Sie es, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen?
Das Wichtigste ist, dass wir an die Betroffenen denken und uns für sie einsetzen. Das machen wir seit wir das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» 2002 gegründet haben. Damit haben wir viel erreicht. Die Sicht auf die Betroffenen und auf die Täterinnen und Täter hat sich seither verändert. In der Schweiz hat an verschiedenen Orten in unterschiedlicher Geschwindigkeit ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Aus dieser Gesinnung entstanden die Präventionsmassnahmen, die wir laufend angepasst haben, damit keine Übergriffe mehr passieren. Und Gott sei Dank hat es in den vergangenen 20 Jahren viel weniger Übergriffe gegeben und die Fälle waren weniger schwer.
Welche Rolle spielt dabei die Studie?
Sie hat zum Ziel, dass den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt. Auf diese Weise wollen wir das Vertrauen der Menschen in die Kirche wieder stärken.
Konsens ist, dass die Studie spät kommt.
Wir Bischöfe haben gemeinsam mit den Landeskirchen und den Ordensgemeinschaften die Studie in Auftrag gegeben. Das ging zu lange, das ist richtig. Wir haben nun unsere Lehren gezogen und fünf Massnahmen formuliert. Auch damit wollen wir das Vertrauen wiedergewinnen. Die erste Massnahme ist die Einrichtung einer schweizweiten Meldestelle, die vollständig unabhängig ist, das ist sehr wichtig.
Und weiter?
Der Entscheid, keine Akten mehr zu vernichten. Wir stellen uns bei diesem Vorgehen sogar gegen das Kirchenrecht. Wir tun das, weil es wichtig ist, dass die Fälle, die erst zu einem späteren Zeitpunkt gemeldet werden, nachvollzogen werden können. Bei der Auswahl des Personals wollen wir einen Standard setzen, der überall gilt: in Klöstern, in Männer- und Frauengemeinschaften, für Priester, für alle, die in der Seelsorge tätig sind. Dieser Standard soll kontrolliert und die Massnahmen zur Einhaltung entsprechend angepasst werden.
Was denken Sie über den geforderten Kulturwandel?
Dieser ist – Gott sei Dank – schon lange im Gang. Ein Aspekt des Kulturwandels betrifft die Sexualmoral. Man hat alles auf das sechste Gebot gelenkt, den Menschen ins Schlafzimmer geschaut und sie danach beurteilt. Wir müssen von einer Spezialmoral zu einer übergreifenden Ethik gelangen. Wie lebt ein Mensch? Wie ist sein Verhältnis zur Schöpfung? Wie gestaltet der Mensch seine Beziehungen? Wie geht er mit seiner Zeit um? Wir müssen den Menschen grösser denken, wie das Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato Sì in Bezug auf die Bewahrung der Schöpfung vorschlägt. Aber einen Kulturwandel kann man nicht befehlen. Der braucht Zeit.
Das Argument, es brauche Zeit, stimmt nicht. Die Kirche hinkt bezüglich der Sexualmoral der Mehrheitsgesellschaft hinterher.
Ich glaube nicht, dass sich der Kulturwandel vollzogen hat. Schauen Sie sich das Verhältnis der Menschen zum Geld an.
Ich spreche von der Sexualmoral…
…dann machen Sie den Fehler, den Sie der Kirche vorwerfen. Sie schauen nur auf die Sexualmoral. Die ist nicht einfach schlecht. Die Forderung der Sexualmoral nach tragfähigen Beziehungen zwischen Menschen, die miteinander intim sind, ist doch nichts Schlechtes.
Ich spreche davon, dass der Sex homosexueller Menschen nicht zulässig sei, wie das Bischof Bonnemain jüngst in der Samstagsrundschau erklärt hat. Wie kann die kirchliche Lehre die Sexualität als ein primäres Bedürfnis des Menschen bestimmen und es gleichzeitig einem Teil der Menschen absprechen?
Die Sexualmoral ist ein Teil der Lehre der Kirche. Auch dieser Teil der Lehre wird sich weiterentwickeln. Weil diese Lehre immer alle betrifft, braucht die Entwicklung Zeit, es geht langsam. Für mich ist ein Mensch ein Mensch, seine sexuelle Orientierung geht mich nichts an und ich beurteile ihn nicht danach. Es war ein Fehler der Kirche nur auf diese Orientierung zu schauen. Wir müssen den Menschen integral denken.
Am 21. April 2023 haben Sie gegenüber kath.ch im Hinblick auf die Veröffentlichung der Pilotstudie in einem Interview gesagt: «Ich weiss nicht, was man mir vorwerfen könnte.» Wie beurteilen Sie Ihre Aussage von damals?
Ich würde das wieder so sagen. Ich komme in dieser Studie nicht vor.
Dann wurden Sie komplett überrumpelt von den Vorwürfen der Vertuschung?
Sagen Sie mir, was Vertuschung ist.
Wenn man etwas nicht meldet, was man melden sollte.
Als Bischof kann ich mich auf Grund des Amtsgeheimnisses und aus Datenschutzgründen oft nicht frei äussern. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht bezüglich der Information. Die meisten Vorwürfe in der Presse bleiben so unkommentiert. Dass die Voruntersuchung im publik gewordenen Fall fälschlicherweise abgeschlossen und die Akten nicht nach Rom geschickt wurden, waren Fehler. Diese habe ich zugegeben, bereut und wieder gutgemacht, indem ich die Akten nach Rom geschickt habe.
Ihr Ruf leidet.
Mir geht es nicht um meinen Ruf. Wichtig sind die Betroffenen.
…Sie sind Repräsentant der Kirche und mit Ihrem Ruf leidet der Ruf der Kirche.
Dann leiden die Gläubigen, was ich sehr bedauere.
Wenn es noch einmal April wäre, was würden Sie anders machen?
Wenn ich in der Vergangenheit Prioritäten setzen musste, habe ich das gerechte Verfahren im Blick gehabt. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass ich mehr auf die Perspektive der betroffenen Person schauen muss. Jetzt hat sich bestätigt, dass die Betroffenenperspektive die Richtige ist. Die Entscheidungen, die ich vor dieser Erkenntnis getroffen habe, kann ich nicht mehr ändern.
Auf die Rücktrittsfrage haben Sie geantwortet, dass Sie nicht davonlaufen wollen. Wie können Sie Teil der Lösung sein, wenn Sie das Vertrauen vieler Menschen verloren haben?
Ich würde es gemein finden, diese Arbeit im jetzigen Zeitpunkt jemand anderem zu überlassen. Weglaufen ist keine Lösung.. Zusammen mit der staatskirchenrechtlichen Seite und den Ordensgemeinschaften will ich die notwendigen Schritte in die Zukunft machen .
Haben Sie deren Rückhalt noch? Frau Asal-Steger, Präsidentin der RKZ, sprach in der Presse davon, Gelder an die Bischofskonferenz einzufrieren.
Das müssen Sie nicht mich fragen. Was wäre der Grund, warum ich zurücktreten müsste? Selbst wenn ich Fehler gemacht habe, sind das keine Straftaten. Ich bin kein Angeklagter. Auch wenn man mich in der Presse als Scheusal hinstellt, bin ich kein Angeklagter. Ich habe den Brief der RKZ gelesen, ich äussere mich nicht dazu. SBK und RKZ haben 2015 eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit unterzeichnet, daran halte ich mich.
Was würde passieren, wenn das Geld nicht mehr bezahlt wird.
Das weiss ich nicht. Bis jetzt kommt das Geld. Aber der Glaube und die Kirche hängen nicht vom Geld ab. Wenn etwas am Geld scheitert, können wir sowieso zusammenpacken.
Wo müssten Sie sparen, wenn das Geld ausbliebe?
Am Personal.
Im oben erwähnten Interview sagten sie, dass Sie ihrem Vorgänger Kurt Koch vertrauten, dass dieser alles nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe. Ist dieses blinde Vertrauen angebracht?
Ich kenne Kardinal Kurt Koch gut, darum habe ich das gesagt. Ich habe keinen Anlass das Gegenteil zu denken.
Sie üben Ungehorsam gegenüber dem Kirchenrecht, wenn Sie die Akten nicht mehr zerstören. Wo haben Sie sonst noch Spielraum für Ungehorsam zu Gunsten der Menschen in der Kirche?
Es kommt darauf an, was das Ziel ist, wenn man eine Regel teilweise oder gar nicht anwendet. Das Ziel im vorliegenden Fall des sexuellen Missbrauchs muss sein, die grösstmögliche Gerechtigkeit walten zu lassen gegenüber den betroffenen Menschen. Das ist ein gutes Ziel. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass wir in der Schweiz viele Spielräume nutzen. Bei uns predigen Menschen, die weder Diakone noch Priester sind. Das ist regelwidrig. Es ist wichtiger, dass die Gläubigen eine gute Predigt einer Theologin oder eines Theologen hören als nichts. Denn das Wichtigste ist, dass das Evangelium unter die Menschen kommt.
Die Kirchgemeinde Adligenswil will das Geld für das Bistum auf ein Sperrkonto legen und ruft andere Kirchgemeinden dazu auf, es ihnen gleich zu tun. Was sagen Sie dazu?
Die Finanzierung der Bistumsverwaltung läuft über die Landeskirche, nicht über die einzelnen Kirchgemeinden. Die Aufsichtsbehörde ist die Landeskirche. Ich kann das nur zur Kenntnis nehmen.
Die Gläubigen nützen die Möglichkeiten, die das duale System bietet, um Druck zu machen. Sie könnten diesen Druck als Hilfestellung sehen und als Argument mit nach Rom nehmen.
Ich glaube nicht, dass das Vorgehen der Kirchgemeinde eine Hilfestellung ist, sondern ein Protest. Sie haben nicht mit mir gesprochen, ich weiss nicht genau, was sie wollen.
Was denken Sie, welche Botschaft steckt hinter den Kirchenaustritten, die sich nun häufen?
Ich bedauere jeden einzelnen Austritt. Die Menschen wollen mit der Kirche nichts mehr zu tun haben, das lese ich in den Zuschriften, die ich bekomme. Viele wollen schon lange nichts mehr mit der Kirche zu tun haben und jetzt gehen sie. Das ist schlimm.
Die Kritikpunkte sind offensichtlich. Ich komme nochmals auf den Kulturwandel zu sprechen. Die Menschen wollen diesen Wandel jetzt.
Was genau muss sich ändern?
Der Pflichtzölibat, die Diskriminierung der Frauen.
Und dann wäre alles gut?
Nein, aber es wäre ein Beweis für den Kulturwandel.
Dafür setze ich mich schon immer ein in Rom, auch jetzt in der Synode. Ich kann das nicht allein machen. Die Weltkirche ist gross und die Schweiz ein kleines Land. Die Weltkirche bewahrt uns davor provinziell zu werden. Ich habe von integraler Ethik gesprochen. Es hat einen Einfluss auf die ganze Welt, wie wir uns hier benehmen. Wir müssen grösser denken im Austausch mit Menschen auf der ganzen Welt. In vielen Fragen – auch in Bezug auf die Diskriminierung der Frau und den Zölibat – treffen wir uns; aber wir müssen diese Fragen je nach kulturellem Hintergrund umsetzen, darum dauert die Umsetzung lange.
Sie haben in einem Interview an der Medienkonferenz gesagt, dass sie ohnmächtig sind. Wie meinen sie das?
Gegen die Drohungen, die Gelder für das Bistum zurückzuhalten, bin ich machtlos. Diesen Druck halte ich für das falsche Vorgehen, gesunde Änderungen zu erzielen. Druck erzeugt Gegendruck und die Menschen reagieren mit Ärger. Dass sich etwas ändern muss, ist klar. Der Zölibat ist nur ein Thema. Es geht grundsätzlicher um das Priesterbild. Um die Stellung eines Priesters in der Gemeinde. An vielen Orten ist der Priester nach wie vor eine herausragende Figur. Da hat sich der vielbeschworene Kulturwandel noch nicht vollzogen. Manchmal ist die herausragende Figur auch ein Gemeindeleiter.
Es geht nicht nur um das Priesterbild, sondern auch um das Weiheverständnis.
Es geht darum, was mit der Weihe zusammenhängt. Das müssen wir unbedingt diskutieren. Aber diesbezüglich gibt es sehr verschiedene Meinungen.
Haben wir in der Schweiz noch Zeit für diese langwierigen Diskussionen? Laufen wir nicht Gefahr, zu einem kleinen Haufen katholischer Traditionalisten zu werden, wenn die Menschen der Kirche angewidert den Rücken kehren?
Wir dürfen nicht einfach alles über Bord werfen. Wenn wir die Weihe abschaffen, dann sind wir nicht mehr römisch-katholisch. Wir müssen uns die Zeit für den synodalen Prozess nehmen.
Was nehmen Sie mit an die Synode und was erwarten Sie von ihr?
Ich nehme das Hauptanliegen unserer Leute mit. Das ist der Zugang der Frauen zu den Ämtern. Und ich erwarte gute Diskussionen und viel Austausch. Die Kirche hat den Weg des synodalen Prozesses eingeschlagen. Dieser Weg ist gangbar, er ist pragmatisch und darum gibt er mir auch Hoffnung. Ich finde das Projekt super, für die ganze Welt etwas zu tun. Der Synodale Prozess ist für alle und nicht nur für uns hier in der Schweiz.
Woraus schöpfen Sie in dieser Zeit ihre Kraft?
Ich glaube an Gott und aus ihm schöpfe ich meine Kraft. Ich bete Psalmen und feiere Messen. Ich bekomme Kraft, wenn ich genug schlafe, das ist im Moment nicht der Fall.
*Dieses Interview entstand in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der Pfarreiblattredaktionen der deutschsprachigen Schweiz ARPF. Eva Meienberg ist Redaktorin beim Pfarreiblatt «Horizonte» Aargau.