Aktuell willigen in sechs von zehn Gesprächen Angehörige nicht in eine Organspende ein, obwohl acht von zehn Bürger:innen grundsätzlich bereit wären, Organe zu spenden, sagt Franz Immer, Direktor von Swisstranspant. Foto: Thomas Müller/fotolight
«Die Widerspruchslösung entlastet Angehörige am Spitalbett»
Franz Immer, Direktor von Swisstransplant, zum neuen Transplantationsgesetz
Die Widerspruchslösung schafft für Angehörige und Ärzt:innen mehr Klarheit, sagt Franz Immer, Direktor von Swisstransplant*. Ein Beitrag zur Abstimmung über das Transplantationsgesetz vom 15. Mai.
Interview: Sylvia Stam
«pfarrblatt»: Warum sollen wir von der Zustimmungs- zur Widerspruchslösung wechseln?
Franz Immer: Wir stellen heute auf Intensivstationen fest, dass die Familie einer verstorbenen Person meist ausserstande ist, in Unkenntnis ihres Wunsches in eine Organspende einzuwilligen. Wir haben in den letzten zwölf Jahren bereits viele Massnahmen zur Erhöhung der Spenderate getroffen. So wurde Fachpersonal geschult, mögliche Spender:innen auf Intensivstationen erkannt, die Gespräche mit den Angehörigen geführt und die Betreuung der Spender:innen und deren Angehörigen sichergestellt. Zudem führt das BAG, seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit Swisstransplant, grosse Informationskampagnen durch, um der Bevölkerung die Wichtigkeit des Entscheids zur Organspende – ob ja oder nein – aufzuzeigen.
Warum kommt es dennoch nicht zu genügend Organspenden?
Das scheitert an der nach wie vor fehlenden Willensäusserung in mehr als der Hälfte der Gespräche mit Angehörigen. Diese müssen heute stellvertretend im Sinne des oder der Verstorbenen entscheiden. Wir glauben, dass die Widerspruchslösung der nächste Schritt ist, bei der jede:r selbstbestimmt sagen kann, ob er oder sie spenden möchte oder nicht.
Aus Ihrer Sicht erleichtert die Widerspruchslösung das Gespräch mit den Angehörigen. Inwiefern?
Heute ist es so, dass wir sagen: «Wir haben das Register konsultiert, wir haben keinen Eintrag gefunden. Haben Sie Kenntnis vom Wunsch des oder der Verstorbenen, ob er oder sie seine Organe spenden wollte?» In mehr als der Hälfte der Fälle ist dieser Wunsch nicht bekannt. Hier müssen die Angehörigen stellvertretend im Sinn der verstorbenen Person entscheiden. Das ist sehr schwierig.
Was würde die Widerspruchslösung daran ändern?
In dieser Situation würde die Frage anders lauten: «Wissen Sie oder vermuten Sie, dass die verstorbene Person nicht hätte spenden wollen?» Die Frage ist anders gestellt. Wenn die Angehörigen sagen: «Er hat die Information über die Gesetzesänderung gehört, er hat Kenntnis der Modalität der Zustimmung und nie etwas dagegen gesagt», sagen wir im Folgeschluss: «Dann dürfen wir davon ausgehen, dass eine Spende im Sinn des Verstorbenen wäre?»
Inwiefern ist das eine Entlastung?
Wir sehen eine Entlastung der Angehörigen am Spitalbett, weil sie nicht mehr proaktiv stellvertretend für ein derartiges Vorgehen Ja sagen müssen. Vielmehr kann jede Person selber ein Nein zu einer Organspende hinterlegen, Sie müssen sich zeitlebens nur einmal dazu äussern, dann kommt das Vetorecht der Angehörigen zum Tragen, da sie wissen oder alleine schon nur vermuten, dass der Verstorbene nicht hätte spenden wollen. Damit kommt es nicht zu einer Organentnahme.
Würden die Angehörigen nicht stärker belastet, weil eine Nicht-Äusserung der verstorbenen Person bei der Widerspruchslösung nicht zwingend ein «Ja» bedeutet?
Gegner:innen der Widerspruchslösung argumentieren damit, es würde ein gesellschaftlicher Druck entstehen. Wir sehen das in der Praxis so nicht. Denn wir fragen, ob die Angehörigen wissen oder nur schon vermuten, dass die Verstorbene einer Organspende nicht zugestimmt hätte. Es ist nicht so, dass man mit dem Gesetz kommt und sagt: Im Register ist nichts eingetragen, also dürfen wir Organe entnehmen. Diesen Druck sehen wir in der Praxis nicht.
Sie sagen, wer keine Organe spenden will, sollte am 15. Mai ein Ja in die Urne legen. Warum?
Unbedingt. Mit dem neuen Gesetz wird ein Bundesregister erstellt. Wer seine Organe nicht spenden will, kann das dort eintragen. Das ist verbindlich und muss im Fall eines Hirntods immer abgefragt werden. Deshalb sollten gerade die Menschen, die nicht spenden wollen, dort ihren Entscheid eintragen.
Wenn die Widerspruchslösung angenommen wird und ich meine Organe nicht spenden möchte, was trage ich ins Spendenregister ein?
Wer nicht spenden will, trägt ins Spendenregister ein «Nein» ein. Das steht für «Ich will nicht spenden.» Diese Möglichkeit haben Sie heute nicht. Deshalb sollten gerade jene Menschen, die nicht spenden wollen, die Änderung des Transplantationsgesetzes annehmen und ein «Ja» in die Urne legen. Damit schaffen sie Sicherheit und Klarheit. Auf der anderen Seite wissen wir, dass wir bei Menschen Organe nicht entnehmen, weil die Angehörigen stellvertretend ablehnen, da diese den Entscheid zur Organspende nicht festgehalten oder den Angehörigen nicht mitgeteilt haben. Dies führt zur aktuellen Situation in der Schweiz, dass in sechs von zehn Gesprächen nicht in die Organspende eingewilligt wird, obwohl acht von zehn Bürgerinnen und Bürger gemäss Umfragen grundsätzlich bereit wären, Organe zu spenden.
Wäre es denn nicht möglich, dieses Register einzuführen, wenn die Vorlage am 15. Mai abgelehnt wird?
Die Nationale Ethikkommission hat diese Diskussion im Zusammenhang mit der Erklärungslösung geführt. Sie wollte ein Register und eine Erklärungslösung. Demnach würde die Bevölkerung regelmässig aufgefordert, der Organspende zu widersprechen, ihr zuzustimmen, den Willen dazu nicht zu äussern oder den Entscheid an eine Vertrauensperson zu delegieren. Hier haben Bund und Parlament den Aufwand als nicht verhältnismässig eingestuft und diesen Vorstoss in den vorberatenden Kommissionen und im Parlament deutlich abgelehnt.
Wenn ich mich gemäss Widerspruchslösung nicht äussere, gilt das als Bereitschaft, meine Organe zu spenden. Es gibt jedoch ein Grundrecht, sich nicht äussern zu müssen.
Das wird auch in Theologie- und Ethikkreisen kontrovers diskutiert. Es gibt Theolog:innen, die sagen, es gibt eine Äusserungspflicht im Sinne der Solidarität. Ein Zwang zur Willensäusserung erachte ich als unverhältnismässig. Als Mediziner sehe ich eine Äusserungspflicht doch eher in dem Sinne, dass ich meine Liebsten entlasten möchte.
Werde ich denn bei der Widerspruchslösung in das Register die Variante «Ich will mich nicht äussern» eintragen können?
Sie können den Entscheid delegieren. Dann müssen die Angehörigen entscheiden und ich denke, bei der Widerspruchslösung wird diese Nicht-Äusserung mehrheitlich als Nein zur Organspende ausgelegt. Mit der heute gültigen Zustimmungslösung ist es so, dass die Delegation eines Entscheids an die Angehörigen mehrheitlich ein Ja gibt. Das sind meist Menschen, die grundsätzlich bereit gewesen wären zu spenden, die aber zusätzlich möchten, dass der Partner oder die Partnerin noch darüber schaut. Auch bei Patient:innenverfügungen kommt es vor, dass man eine Drittperson für diese Entscheidung bestimmt.
Können Empfänger:innen eines Spendeorgans bei der Widerspruchslösung sicher sein, dass die Spende wirklich freiwillig war?
Mit der Widerspruchslösung wäre die Freiwilligkeit genauso gewährleistet wie mit der heute gültigen Zustimmungslösung. Denn diese Sicherheit haben wir schon mit der heutigen Lösung nicht zu 100 Prozent. Es kann durchaus sein, dass wir ein Organ entnehmen bei einem Menschen, der das nicht gewollt hätte, der vielleicht ein Nein auf einem Spenderausweis eingetragen hatte, den man nicht gefunden hat. Denn wir finden praktisch nie eine Spenderkarte. Das Register wäre hier wirklich ein Gewinn.
Ist die staatlich geschützte körperliche Integrität mit der Widerspruchslösung gewährleistet?
Sicherlich, denn Sie können sich ja äussern, Sie können Nein sagen. Wichtig ist aber, dass parallel zur Einführung der Widerspruchslösung eine verstärkte Informationskampagne lanciert wird, damit die Bevölkerung diese neue Regelung kennt.
Was ist mit vulnerablen Personen, die sich nicht äussern können?
Der Bundesrat hat das sehr gut abgefedert, indem er sehr viele Gruppierungen explizit von dieser Modalität ausgeschlossen hat. Wir haben es im Spitalalltag häufig mit Menschen aus anderen Kulturen zu tun. Für sie, ebenso wie für Jugendliche, Behinderte und Menschen mit Demenz wird auch bei Annahme der Widerspruchslösung weiterhin die erweiterte Zustimmungslösung gelten.
Wie wird das konkret umgesetzt? Wer entscheidet, ob jemand zu einer solchen Gruppe gehört?
Menschen aus Ländern, die diese Modalität nicht kennen, die erst vor kurzem in die Schweiz gekommen sind, oder Kinder und Menschen, die bevormundet oder urteilsunfähig sind, sind solche vulnerablen Personen, welche explizit im Gesetz erwähnt werden. In so einem Fall ist für uns klar, dass wir eine explizite Zustimmung brauchen, wie das heute schon der Fall ist.
*Swisstransplant führt im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit die Warteliste der Organempfänger:innen und ist für die gesetzeskonforme Zuteilung der Organe zuständig. Ausserdem koordiniert sie die Transportlogistik und führt die Kostenabrechnung im Spendeprozess unter Einhaltung der Auflagen zur Qualitätssicherung im Organspendeprozess.
Hinweis: Der Ethiker Frank Mathwig argumentiert gegen die Widerspruchslösung.
Abstimmung über das Transplantationsgesetz
Bisher dürfen Organe nur entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat. Ist dies nicht der Fall, liegt der Entscheid bei den Angehörigen (erweiterte Zustimmungslösung).
Die Gesetzesänderung des Bundes sieht vor, dass jede Person als Spender:in gilt, ausser sie hat zu Lebzeiten explizit festgehalten, dass sie keine Organe spenden will. Liegt keine Willensäusserung vor, werden die Angehörigen befragt (erweiterte Widerspruchslösung). Sind keine Angehörigen da und ist der Wille unbekannt, dürfen keine Organe entnommen werden.
Die Gesetzesänderung ist ein indirekter Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative, die daraufhin zurückgezogen wurde. Gegen den Vorschlag des Bundes wurde das Referendum ergriffen. Daher kommt es am 15. Mai zur Abstimmung über das Transplantationsgesetz.