Dornröschenschlaf
Aki-Kolumne von Isabelle Senn
Als Kind war Dornröschen mein Lieblingsmärchen. Ich war fasziniert von der schönen Prinzessin, die während geraumer Zeit unbeachtet und ungestört vor sich hinschlummerte – zusammen mit ihrer ganzen Entourage. Dass da über Jahre oder gar Jahr zehnte hinweg nichts geschah: keine Kommunikation, kein Wachstum, kein Spiel, war für mich kaum vorstellbar.
Wenn ich in diesen Wochen zwischen durch das aki aufsuche, kommt es mir so vor, als wäre unser Haus, das sonst in dieser Zeit offen und belebt ist, in einen Dornröschenschlaf versunken: Die Türen sind geschlossen, die Räume leer, das Sekretariat und die Büros verlassen. Da und dort stehen Reinigungsgeräte herum, die vom Frühjahresputz zeugen, für den es in diesem Jahr mehr als genügend Zeit gibt. An der Plakatwand werden Anlässe angekündigt, die schon längst hätten statt finden sollen; von Hand ist über die Plakate geschrieben worden «fällt aus» oder «wird verschoben». Ich rätsle, wann die Kaffeemaschine wohl ihren letzten Kaffee ausgegeben hat und wie lange es her sein mag, dass die Mikrowelle in der Küche eine Mahlzeit aufgewärmt hat. Ohne das pulsierende Leben und die munteren Gespräche im Flur wirkt das Haus an der Alpeneggstrasse ganz ungewohnt – und es lädt zum Nachdenken ein: Was tun wir hier normalerweise? Wo durch zeichnet sich unsere Arbeit aus? Wer geht hier gewöhnlich ein und aus? Und wer nicht?
Die Stille im Haus provoziert keinen Aktionismus, viel mehr lenkt sie den Blick und die Gedanken auf das, was im Normal betrieb während des Semesters vor ausgesetzt wird und in der Hektik des Alltags oft unhinterfragt bleibt. Nicht alles schläft und schlummert wie im Märchen von Dornröschen; die Pflanzen und das Grün rund um das Schloss herum wachsen und wuchern. Ähnlich kommt es mir vor, wenn ich vors Haus trete und den grossen Garten mit allen Sinnen wahrnehme: Hier spriesst und blüht und wächst es. Mir begegnet das Leben in seiner Fülle und Vitalität, und ich ahne, dass auch das Ruhen unseres gewohnten Alltags und die Passivität im Hinblick auf unser Programm nur vorübergehend sind. Schon jetzt fühle ich mich wach geküsst – nicht von einem Märchenprinzen, sondern vom Frühling, der sich in märchenhafter Schönheit zeigt. Das Leben geht weiter – wann und wie genau wird sich erst noch zeigen. Vieles bleibt offen, spannend und im wahrsten Sinne des Wortes lebendig.
Isabelle Senn
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