Ökumenische Abschiedsfeier in Köniz mit der katholischen Gemeindeleiterin Christine Vollmer. Foto: Pia Neuenschwander
Ein allerletzter Besuch
Reportage über die Feier zu den Grabaufhebungen in Köniz.
Ein tiefer Einschnitt in der Trauergeschichte: Auf den Friedhöfen in Köniz und Wabern werden ab diesem Frühjahr rund 200 Gräber aufgehoben. Am 29. Februar haben die Angehörigen bei einer rituellen ökumenischen Feier ein letztes Mal Abschied genommen.
Von Marcel Friedli
Jedes Jahr, an Allerheiligen: Salomé Mindeguia, damals ein Kind, fährt mit ihrer Familie ans Grab ihres Bruders. Fünfzig Kilometer weit. Dort legt sie einen Kranz nieder, den die Mutter aus Buchs und Chrysanthemen gefertigt hat – um des verstorbenen Bruders und Sohns Tomás zu gedenken. Das Ritual einer Familie, die um den Bub trauert, der 1965 mit vier Monaten gestorben ist. Ohne erkennbare Ursache. Salomé Mindeguia kennt ihren Bruder nicht: Er starb, bevor sie auf die Welt kam. Die Jahre vergehen, in der Umgebung des Grabes von Tomás verschwinden die Kreuze.
«Wir vermuteten, dass demnächst sein Grab an die Reihe kommt», erzählt Salomé Mindeguia. «Solange es jedoch keine offizielle Mitteilung gab, legte meine Mutter Wert auf diese Besuche. Obwohl sie befürchtete, dass sie dereinst vor einem leeren Grab stehen würde.» Doch das geschieht nicht: Solange die Eltern gesund sind und das Grab besuchen können, ist es da. Es bleibt zehn Jahre länger bestehen als die im Reglement vorgesehenen zwanzig Jahre. «Eine offizielle Mitteilung gab es jedoch nie. Die Ungewissheit hat meine Eltern viel Kraft gekostet», weiss Salomé Mindeguia. Sie und ihre Eltern hätten sich gewünscht, informiert zu werden – und an einer Feier teilzunehmen, wie sie auf den Friedhöfen in Wabern und Köniz Ende Februar stattgefunden hat.
Dort werden seit Anfang dieses Monats rund 200 Gräber aufgehoben (siehe Kasten).
Erinnerung als Begegnung
Zu Beginn des Rituals zur Aufhebung der Gräber lässt der Musiker Fausto Oppliger eine besinnliche Melodie auf seinem Horn erklingen. Die Anwesenden werden ermuntert, sich an den Menschen zu erinnern, dessen letzte Ruhestätte demnächst aufgehoben wird: an gemeinsame Erlebnisse, an Gespräche, an lustige und traurige Momente, an die gemeinsame Beziehung und Verbindung. Die Chance auch, etwas abzuschliessen, Unversöhntes in Frieden zu verwandeln und sich so zu befreien und Heilung zu erfahren. «Erinnerung», sagt Pfarrerin Christine Rupp in Anlehnung an den Poeten Khalil Gibran, «ist eine Form der Begegnung. Diese Erinnerungen leben mit uns weiter – auch wenn die konkrete Erinnerung, das Grab, nicht mehr da ist.»
Dann schreiten die Angehörigen zum Grab ihrer Verstorbenen. Sie verweilen dort, denken nochmals an diesen Menschen, halten Zwiesprache, lesen ein letztes Mal dessen Inschrift: Vor- und Nachname, Geburts- und Todesjahr. Dessen Eckdaten in der Welt; dazwischen dessen Leben und Wirken, dessen Spuren. Salomé Mindeguia verweilte nicht nur am Grab ihres Bruders, sondern auch an jenem ihrer Grosseltern. Mit ihnen, ihren Eltern und den drei Geschwistern lebte sie in einem Bauernhaus, bis sie sieben Jahre alt war; nach dem Tod ihrer Grosseltern besuchte sie das Grab jeweils an Allerheiligen. «Ihre Namen dort zu sehen, war für mich etwas Spezielles: Damit hatten sie einen Platz in dieser Welt. Sie existierten auf eine gewisse Weise, nicht nur in unseren Gedanken, in unseren Herzen – ihre Namen hatten einen Platz in der Realität: auf dem Friedhof.
So waren meine Grosselten für mich anwesend; das Grab war der Ort, an dem ich in ihrer Nähe sein konnte.» Das fiel weg, als die sterblichen Überreste ihrer Grosseltern woandershin gebracht wurden – an einen Ort, an dem sie nie gelebt hatten. «Ich habe das Gefühl, dass dadurch ihre Ruhe gestört worden ist. Für mich wäre es besser zu wissen, dass die Gräber aufgehoben wurden und meine Grosseltern nicht mehr da sind – als zu denken, sie sind an einem Ort, an dem sie nicht hingehören. Das ist wohl der Grund dafür, dass ich das Grab meiner Grosseltern am neuen Ort nie besucht habe.»
Konfrontiert mit der Endlichkeit
Für viele Menschen», weiss Christine Vollmer, Gemeindeleiterin der katholischen Pfarreien Köniz und Wabern, «bedeutet es einen grossen Einschnitt in der Beziehung und Trauergeschichte, wenn der physische Ort nicht mehr da ist, an dem man den Verstorbenen besuchen, sich erinnern, mit ihm sprechen, eine Kerze anzünden konnte, da, wo der Name stand, der Mensch also noch eine Art Platz in der Welt hatte. Ist dieser Ort fort, ist dies ein weiterer Schritt des Abschieds, des Loslassens.» Die letzte Station nach dem Abschied durch den Tod selber, nach der Aufbahrung und nach der Beerdigung. «Man wird sich noch einmal bewusst, dass der Mensch nun für immer weg ist», ergänzt Pfarrerin Christine Rupp. «Das bedeutet, sich nochmals mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen – auch mit der eigenen.»
Zurück auf die Friedhöfe in Köniz und Wabern: An den Gräbern, die spätestens im Herbst nicht mehr da sein werden, erblicken die Anwesenden Kerzen, zu Herzen geformt. Diese nehmen sie, schreiten zur Osterkerze, an der sie die Herzenskerze anzünden. «Das ewige Licht, in dem auch die verstorbene Person geborgen ist, brennt weiter, auch im Alltag», sagt Christine Vollmer. «Die Verbindung und Beziehung ist weiter da, auch wenn man sie nicht an einem konkreten Ort pflegen kann – symbolisiert durch das ewige Licht, das nicht an einen Ort in der Welt gebunden ist.»
Die Verstorbenen würdigen
Um die Osterkerze versammelt, sprechen die Angehörigen den Namen des Menschen aus, dessen letzte Ruhestätte sich bald auflösen wird. «Das Grab ist der letzte Ort, wo man öffentlich noch existiert – durch den Namen, der die Erinnerung wachhält. Ihn bewusst noch einmal auszusprechen, löst diese Verbindung zur öffentlichen Dimension. Man nimmt den Namen ins Private mit, die Erinnerung an diesen Menschen, die im Herzen lichtvoll weiterlebt», sagt Christine Vollmer. «Spricht man den Namen des Verstorbenen aus, würdigt man den Menschen, der verstorben ist, ein letztes Mal öffentlich: sein Leben, sein Wirken», ergänzt Christine Rupp. Mit dem Herzenslicht in der Hand verlassen die Angehörigen den Friedhof. Vor ihnen das Leben, mit all seinen Facetten. Hinter ihnen die Gräber, die eins nach dem anderen verschwinden werden und wo bald eine leere Fläche sein wird, aus der Neues wachsen wird. Khalil Gibran verdichtet dies in diesem Bild: «Die Blume geht zugrunde. Der Samen bleibt zurück und liegt vor uns. Geheimnisvoll, so wie die Ewigkeit des Lebens.»
RUHEFRIST
Von Anfang März bis in den Herbst dieses Jahres werden auf den Friedhöfen in Köniz und Wabern 200 Gräber aufgehoben: Pflanzen, Blumen, Kerzen, Kreuze, Grabsteine und weitere Dekoration werden weggeräumt, falls man das nicht selber tut; etwaige Überreste werden in der Erde gelassen.
Die gesetzliche Ruhefrist für Gräber beträgt in der Gemeinde Köniz 20 Jahre für allgemeine Gräber und 30 Jahre für Familiengräber. Bei bestimmten Grabarten kann die Ruhedauer gegen Gebühr verlängert werden. All das ist in einem entsprechenden Reglement festgehalten. Diese Frist berücksichtigt das Bedürfnis der Hinterbliebenen nach einem Ort der Erinnerung sowie deren Möglichkeiten, das Grab zu pflegen: Der Grund für die Aufhebung ist nicht Platzmangel, sondern hat mit dem Aufwand zu tun. Die Grabesruhe bleibt nach der Räumung gewährleistet: Die freigewordene Fläche bleibt für mehrere Jahre ungenutzt. In der Regel werden auf ehemaligen Sarggräbern Urnen beigesetzt und umgekehrt.
Am 29. Februar fand vor der Gräberaufhebung erstmals je eine ökumenische Abschiedsfeier statt. Die betroffenen Angehörigen wurden angeschrieben, soweit ihre Adressen ausfindig gemacht werden konnten. Zudem wurde die Aufhebung der Gräber im Anzeiger, online sowie auf den Friedhöfen mit Hinweis auf die beiden Abschiedsfeiern in Köniz und Wabern publiziert. Die katholische Gemeindeleiterin Christine Vollmer und die reformierte Pfarrerin Christine Rupp haben diese gemeinsam gestaltet.