René Ochsenbein (1988), Religionspädagoge i.A., Bern

Ein knurrender Magen

07.04.2011

René Ochsenbein

Rette mich, Herr, vor bösen Menschen, vor gewalttätigen Leuten schütze mich! Denn sie sinnen in ihrem Herzen auf Böses, jeden Tag schüren sie Streit. Wie die Schlangen haben sie scharfe Zungen und hinter den Lippen Gift wie die Nattern. (…) Ich weiss, der Herr führt die Sache des Armen, er verhilft den Gebeugten zum Recht. Deinen Namen preisen nur die Gerechten; vor deinem Angesicht dürfen nur die Redlichen bleiben.
Psalm 140 

Dieser Psalm ging mir im Benediktinerkloster in Engelberg über die Lippen. Ich sass zur Vesper im Chorgestühl, mein Magen knurrte und ich freute mich auf ein ausgiebiges Nachtessen, doch zuvor führte mich der Psalm 140 in ein Meer von Gedanken.

Ich liebe die Psalmen. Für mich leben diese Texte. Sie haben einen Pulsschlag, der mal langsam klopft, mal – von Adrenalin beschleunigt – rast. Sie haben Blutadern, durch die das pure Leben strömt. Lese ich die Psalmen, eröffnet sich mir das Buch der Menschheit. Ich sehe Intrigen, Mauern die fallen, ich sehe Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. Ich sehe Ängste, Trauer, Einsamkeit, Feinde, Liebe, Glaube, Hoffnung. Diese Texte haben seit ihrer Dichtung keinen Funken Aktualität eingebüsst. Für mich ist das Buch der Psalmen ein Lied, das in die Ewigkeit hinein gesungen wird und die Erde weiter drehen lässt. Dieses Buch ist ein Stück vom Gefälle, welches den Fluss des Lebens zur ihrer Mündung führt.

So beteten die Mönche, eine Handvoll Kollegen aus dem Studium und ich, in der immer selben Tonfolge und Lautstärke, Zeile für Zeile, auch den Psalm 140. Darauf folgte das „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen“. Die Vesper ging zu Ende. Der Abt gab ein Zeichen: „Tock“. Wir erhoben uns, verliessen schweigend das Chorgestühl und ich freute mich noch immer auf ein saftiges Stück Fleisch und einen süssen Schluck Wein.