Ein neuer Ton
Kommentar von Jürg Meienberg
Tatsächlich. Kardinal Schönborn lobte an der Pressekonferenz in Rom mit viel Begeisterung den neuen Ton eines kirchlichen Schreibens, als er den Text zur Familiensynode, „Amoris Laetitia“ vorstellte. Und wirklich. Das erste Lesen bestätigt den Eindruck. In der realistischen Einschätzung von Familie und Ehe aus dem Blickwinkel verschiedener Kontinente spürt man die konkrete Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, die heutige Familien und Ehen erleben. Die alten Ideale, die die Kirche bisher hochhielt, werden ungewohnt deutlich selbstkritisch hinterfragt und der Umgang mit der Seelsorge auf ein solides Fundament der Barmherzigkeit gestellt. Papst Franziskus schreibt:
„Wir stellen der Barmherzigkeit so viele Bedingungen, dass wir sie gleichsam aushöhlen und sie um ihren konkreten Sinn und ihre reale Bedeutung bringen, und das ist die übelste Weise, das Evangelium zu verflüssigen. Es ist zum Beispiel wahr, dass die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit und die Wahrheit nicht ausschließt, vor allem aber müssen wir erklären, dass die Barmherzigkeit die Fülle der Gerechtigkeit und die leuchtendste Bekundung der Wahrheit Gottes ist. Darum sollte man immer bedenken, dass alle theologischen Begriffe unangemessen sind, die letztlich Gottes Allmacht selbst und insbesondere seine Barmherzigkeit infrage stellen“ (311)
Klar, eigentlich bleibt alles beim Alten. Wiederverheiratete Geschiedene sollen sich zwar nicht „exkommuniziert“ fühlen, werden aber nicht per Dekret zur Kommunion zugelassen. In einer Fussnote, sagt Kardinal Schönborn, betone der Papst aber, die Sakramente können als Hilfe in gewissen Fällen gegeben werden. Zudem regt der Papst an, ja verlangt er eindringlich, dass das Gewissen der Einzelnen mehr ins Blickfeld der Beurteilung rücken soll. Die Kirche betonte bisher zwar die Freiheit des Gewissens. Aber nur die Kirche wusste, wie mit dem Gewissen in rechter Weise umzugehen sei. Jetzt will der Papst von seinen Seelsorgern mehr Vertrauen in die Menschen und ihre Unterscheidungsfähigkeit. Er verlangt eine bessere Ausbildung der Seelsorgenden in Familien- und Ehefragen, und ruft sie auf, die Komplexität der jeweiligen Verhältnisse in ihren spezifischen Situationen in der Begleitung und Beurteilung miteinzubeziehen. Es gäbe Eheverhältnisse, die zu Gunsten aller Beteiligter, besser aufgelöst werden. Dazu will er Ehenichtigkeitsverfahren beschleunigen und ihre Gebühren streichen. Es sind kleine Schritte. Aber vielleicht bewirken sie mehr, als wir jetzt vermuten. Die Begeisterung von Kardinal Schönborn, über den neuen Ton jedenfalls, hält der ersten Prüfung stand. Es ist ein kirchliches Schreiben, dass man leicht und mit Gewinn liest. Die „Freude der Liebe“ ist kein leeres Wort.
Jürg Meienberg
Zum Dossier zu «Amoris Laetita»