Bilder aus der Serie «Was enthüllt das Kopftuch?» der Schweizer Künstlerin Eliane Zinner. Foto: zVg
«Ein Nikab in Kuwait ist nicht das gleiche wie einer in der Schweiz»
Islamwissenschaftler Andreas Tunger-Zanetti widerspricht gängigen Vorstellungen mit einer Studie.
Hinter der Vollverhüllung stecke kein islamistisches Gedankengut, Frauen hierzulande trügen den Nikab freiwillig. Andreas Tunger-Zanetti, Islamwissenschaftler an der Universität Luzern, widerspricht mit einer Studie gängigen Vorstellungen zum Nikab – im Volksmund «Burka» genannt.
Interview: Sylvia Stam
Laut Ihrem Buch «Verhüllung» werden Frauen im Westen nicht von einem Mann zum Tragen des Nikab gezwungen. Woher wissen Sie das?
Andreas Tunger-Zanetti: Dies zeigen Studien aus westeuropäischen Ländern wie Belgien, Dänemark, Holland und Frankreich, wo Feldforschung zu Nikabträgerinnen betrieben wurde. Die Resultate sind in Bezug auf die Frage des Zwangs durchwegs sehr klar.
Warum tragen diese Frauen also einen Nikab?
Weil es ihrer Frömmigkeit und Überzeugung entspricht und mit ihrem Körpergefühl, das sie in der Öffentlichkeit empfinden, zusammenpasst. Diese Frauen sind in der Regel im Westen aufgewachsen und haben hier die Schulen durchlaufen. Viele Frauen legen den Nikab später wieder ab. Das zeigt die französische Soziologin Agnès De Féo auf, die während 10 Jahren mit über 200 Nikab-Trägerinnen immer wieder gesprochen hat.
Sie gehen von 20 bis 30 Nikab-Trägerinnen in der Schweiz aus, gesprochen haben Sie mit einer. Ist das nicht eine etwas dünne Basis?
Uns ging es darum, wenigstens eine Stichprobe zu haben, die wir mit der Forschung aus anderen westeuropäischen Ländern vergleichen konnten. Ausserdem wollten wir zuhören: Wie erklärt sich eine Frau, die sich in der Öffentlichkeit so kleidet? Dieser einzelne Fall entspricht in vielen Punkten sehr genau dem Durchschnittsbild, das die Forschung an Dutzenden von Frauen gezeichnet hat. Was über weitere Frauen in der Schweiz an Bruchstücken bekannt ist, passt ebenfalls dazu.
Ist nicht die Tatsache, dass es so schwierig ist, mit diesen Frauen zu sprechen, ein Hinweis darauf, dass sie nicht sprechen dürfen und vielleicht doch unterdrückt werden?
Auch das hat die Forschung in den erwähnten Ländern sehr genau angeschaut. Die Sozialforscher*innen kennen das Milieu sehr gut, begleiten die Frauen über einen längeren Zeitraum und hatten in all diesen Fällen nie Anzeichen dafür, dass Druck ausgeübt wurde. Deshalb kann man das recht zuverlässig sagen. Es mag einzelne Fälle geben, aber das ist ganz klar die Ausnahme.
Auch mit dem Argument, hinter der Verhüllung stecke eine islamistische Haltung, räumen Sie auf.
Viele Frauen, die einen Nikab tragen, wollen die religiösen Gebote besonders gut erfüllen. Das beruht oft auf einer fundamentalistischen Interpretation. In einzelnen Fällen mag es sein, dass dahinter eine politische Agenda steht. Meistens ist der Zusammenhang zu einem organisierten politischen oder pietistisch-salafistischen Islam jedoch eher lose.
Befürworter*innen der Vorlage argumentieren, das Gesicht zu zeigen sei ein Grundwert unserer Gesellschaft.
Das Gesicht zeigen zu dürfen, ist ein wichtiges Recht. Das Gesicht zeigen zu müssen, ist nur dann einsehbar, wenn der Staat eine Person identifizieren muss, wie es beim bundesrätlichen Gegenvorschlag vorgesehen ist. Das Gesicht jedem zeigen zu müssen, greift für manche Frauen – vielleicht auch Männer – zu sehr in ihr Körperempfinden ein, sodass es ihnen nicht mehr wohl ist.
Dem steht aber das Unwohlsein derjenigen gegenüber, die das Gesicht der Frau nicht erkennen können.
Das ist für viele Nikabträgerinnen ein Dilemma. Die von uns befragte Frau anerkennt das sehr klar. Man kann daran abmessen, wie viel es braucht, bis man diesen Schritt tut. Aber es ist ihnen wichtiger, dass sie sich einigermassen wohl fühlen, als dass jeder ihr Gesicht sehen darf.
Die jemenitische Politologin Elham Manea sieht im Nikab ein politisches Symbol für eine Ideologie, die Frauenrechte verletzt, deshalb befürwortet sie die Vorlage.
Dieses Argument bringen häufig Personen vor, die im Ausland Erfahrungen mit einem bedrängenden Islam oder mit Islamismus gemacht haben. Das will auch ich hier nicht. Aber ein Nikab in Kuwait ist nicht das gleiche wie ein Nikab in der Schweiz. Man muss jeweils den Kontext anschauen, in dem eine Frau lebt, die den Nikab trägt; was sie dazu sagt, wie sie das für sich versteht.
Als Frau ohne solche Ausland-Erfahrungen kann ich verstehen, dass ein solches Kleidungsstück diese Angst weckt.
Es weckt diese Angst, weil wir aus den Medien Berichte und Bilder aus Ländern mit politischen und gesellschaftlichen Problemen sehen. Solche Berichte werden der Komplexität einer Gesellschaft jedoch nicht gerecht. Nehmen wir Afghanistan: Hier werden Frauen durch Strukturen, in denen Tradition und Religion sehr stark ineinandergreifen, unterdrückt. Veränderungen solcher Strukturen brauchen jedoch enorm Zeit. Während wir in einer Burka ein mobiles Gefängnis sehen, empfinden in der aktuellen Situation manche afghanischen Frauen sie als Schutz, dank dem sie das Haus überhaupt verlassen können.
Ein Fazit Ihrer Studie lautet, dass es in der Debatte nicht um den Nikab, sondern um die Frage nach unserer eigenen Identität gehe. Können Sie das erläutern?
Die 30 Nikabträgerinnen sind bloss eine Chiffre, die anzeigt, dass an einem anderen Ort die Grundfrage nicht gelöst ist: Wie gehen wir als Gesellschaft mit der Diversität an Religionen und Kulturen um? Die Kenntnis von Fakten und religiösen Begriffen, das Deuten-Können von religiöser Praxis, hat in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Selbst Mitglieder von Landeskirchen sind oft nicht in der Lage, das fünfmalige tägliche Beten von Muslim*innen adäquat einzuordnen, sondern nehmen das schon als Anzeichen von Radikalisierung. Die gleiche Unsicherheit besteht kollektiv: Welchen Platz sollen wir als Gesellschaft der Religion einräumen? Welchen Platz sollen die einzelnen Religionen bekommen?
Wie erklären Sie sich die hohe Zustimmung in der Gesellschaft für die Vorlage?
Es ist ein Abwehrreflex aufgrund dieser Verunsicherung. Wenn die Problemlage so ist, wie von mir geschildert, trägt das generelle Verbot einer Verhüllung nicht dazu bei, diese zentrale Frage zu klären und konstruktiv zu bearbeiten. Es trägt auch nichts zur Sicherheit bei, im Gegenteil.
Eine Annahme könnte die Sicherheit gefährden?
Für viele Muslim*innen hierzulande, die nie eine Vollverhüllung in Betracht ziehen würden, wäre die Annahme eine Form der Zurückweisung ihrer Religion. Ähnlich wie nach der Minarett-Initiative dürften viele dies als Fusstritt empfinden. Einzelne könnten daraus einen Groll entwickeln, der zu Gewalttaten führen kann. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass solche Verbote tendenziell dazu führen, dass Gewaltakte wahrscheinlicher werden. In Frankreich sind die grössten Anschläge passiert, dort hat aber auch die heftigste Debatte über das Verhüllungsverbot stattgefunden.
Andreas Tunger-Zanetti: Verhüllung. Die Burka-Debatte in der Schweiz.
Hier und Jetzt-Verlag 2021. ISBN: 978-3-03919-530-5
Abstimmung am 7. März
Die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» wurde vom Egerkinger-Komitee lanciert. Sie verlangt, dass niemand in öffentlich zugänglichen Orten sein Gesicht verhüllen darf. Ausnahmen wären in sakralen Räumen sowie aus Gründen der Sicherheit, der Gesundheit und des einheimischen Brauchtums. Wird die Initiative abgelehnt, tritt der indirekte Gegenvorschlag des Bundes in Kraft. Dieser verlangt, dass Personen den Behörden ihr Gesicht zeigen müssen, wenn es für die Identifizierung notwendig ist. Die Verletzung dieser Pflicht kann die Verweigerung einer Leistung oder eine Busse nach sich ziehen. Der Gegenvorschlag sieht zudem Massnahmen zur Stärkung der Rechte der Frauen vor. sys